Andrea Grudda: „Human Leading und Learnability Quality entscheiden über Zukunfts­fähigkeit“

von Andrea Grudda
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Andrea Grudda. Foto: Judith Wagner

Alte Strukturen haben ausgedient: „Human Leading“ und „Learnability Quality“ – zwei Eigenschaften, die über die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen entscheiden. Es wird Zeit, sie sich anzueignen – erklärt Andrea Grudda.

Es vergeht kaum ein Tag mit Artikeln oder Kongressen, die nicht mit dem Satz: „In der Zukunft werden viele Veränderungen auf uns zu kommen“ beginnen. Ich kann ihn nicht mehr hören. Denn wir sind schon lange mitten drin in unglaublichen Veränderungen. Wenn Zukunftsforscher erzählen, wie gewaltig die Veränderungen sein werden, die auf uns zukommen, übersehen wir oft, dass sie schleichend schon in unserer Welt angekommen sind.

Welcome future – nice to meet you!

Ich finde es großartig, all diese Veränderungen miterleben zu können. Natürlich bin ich manchmal überfordert. Wie erkenne ich, in dieser unfassbaren Flut an Neuem, was relevant für mich ist? Muss ich jetzt wirklich noch Programmieren lernen? Wenn mich diese Fragen umtreiben, als jemand, die sich auf die Zukunft freut, wie geht es dann Menschen, die den Veränderungen sehr kritisch oder ängstlich gegenüberstehen? In meinem Alltag erlebe ich das fast täglich. Ich erlebe Unternehmen, die aus Angst, die falschen Entscheidungen zu treffen, gar nichts machen.

Wo soll man anfangen?

Genau dort, wo alle Veränderungen ihren Ursprung haben: Bei den Menschen! Denn all die Veränderungen, die gerade passieren, fallen ja nicht vom Himmel. Es sind wir Menschen, die bahnbrechende Technologien entwickeln und neue Produkte. KI wird von Menschen programmiert, Computer und Roboter von Menschen entwickelt. Menschen benutzen Smartphones mit ihren Apps, weil sie es wollen.

Der Mensch hat sich verändert. Und veränderte Menschen verändern Gesellschaften. Es entstehen neue Bedürfnisse, neue Werte, neue Ziele. Alles vernetzt sich zunehmend und die Umwelt wird in einigen Bereichen komplexer, allerdings in vielen Bereichen auch einfacher und leichter zugänglich. Durch die Verknüpfung von neuer Technologie und KI wird der Mensch an erstaunlich vielen Stellen ersetzbar. So stehen Menschen nicht in Konkurrenz zu anderen Menschen, sondern werden immer mehr in einen technologischen Wettstreit mit neuen Technologien eintreten.

Es gibt Fragen und Themen, mit denen wir uns in den letzten Jahren intensiv beschäftig haben. Jeder kennt Begriffe wie Work-Life-Balance, Generation Y, Z und ihre Bedürfnisse und Wünsche.

Und jetzt kommt eine neue Herausforderung.

Durch den täglichen Umgang mit der schon vorhandenen Technik im Alltag, sei es unser Tablet, PC oder Smartphone, haben wir uns weiter verändern lassen. Ja, verändern lassen – denn der tägliche Umgang mit all der Technik geht nicht spurlos an uns vorüber. In der komplexen Welt der Herausforderungen lautet die Frage: Was kann der Mensch im Vergleich zur KI?

Eine Frage, die über die Stellung des Menschen in der Zukunft entscheiden kann. Die stärkste Konkurrenz in der Gastronomie ist aktuell ja nicht das Nachbarunternehmen, sondern es sind Firmen wie Foodora, Lieferheld und Co. Also Unternehmen, die vor allem digital funktionieren.

Jetzt, da man die Lieblingsgerichte aus dem Lieblingslokal direkt nach Hause geliefert bekommt, müssen sich doch Gastronomen dringend die Frage stellen: Warum wollen die Menschen nicht mehr zu uns kommen? Wie uninteressant muss ein Restaurantbesuch sein? Was passiert dort – oder eben nicht –, dass Menschen dazu gebracht werden zu sagen: Nein, das lohnt sich nicht, ich lasse mir das Essen lieber liefern?

Die Unternehmen sehen uninteressant und austauschbar aus. In unserem Smartphone haben wir eine unendlich große, kunterbunte Welt an Phantastischem. Ob real oder virtuell. Es prägt uns. Es steigert unsere Erwartungen an unsere Umwelt. Über Instagram habe ich schon alles gesehen, gegessen, angezogen oder erlebt. Also was soll mir die traurige Realität in den Innenstädten bieten? Ich war letztes Jahr in Düsseldorf bei zwei Opening in einem Monat, beide Locations hatten fast die identische Einrichtung … 

Vergleichbar zieht sich das durch alle Branchen. Wir kennen über Social Media alles. Und es ist nur Schönes, Besonderes oder Beeindruckendes, denn etwas anderes postet man ja nicht. Also wie soll die Realität da mithalten?

Und was ist mit Gesprächen? Wie anstrengend sind sie geworden?

Gibt es etwas Nervigeres, als viele Fragen gestellt zu bekommen? Doch die Basis vieler Gespräche besteht darin, dass man viele Fragen gestellt bekommt, damit mein Gegenüber herausfindet, was ich wirklich will und brauche. Aber ich muss doch schon den ganzen Tag Entscheidungen treffen. Liken oder nicht? Gehen oder bleiben? Vegan oder Fleisch? Luxus oder Verzicht? Wir wollen alles und können uns nicht entscheiden.

Und Google macht das nicht. Google kennt uns. KI und Algorithmen sorgen dafür. Es ist also zurzeit so viel einfacher, im Netz unterwegs zu sein als im realen Leben. Und die Technik wird ja immer besser. Und sie steht erst am Anfang. Ein Mensch kann in bestimmten Bereichen niemals mehr leisten als eine KI. Und diese wird immer ausgefeilter. Kein Wunder, dass das Einkaufserlebnis auf der Couch befriedigender ist als das trostlose Gespräch in einem Restaurant.

Warum enttäuschen uns Menschen in der Realität gerade? Weil sie nicht so qualitativ hochwertiges Wissen haben wie die KI. Weil sie uns Fragen stellen und nichts von sich aus anbieten. Weil sie uns nicht wiedererkennen, obwohl wir schon sehr oft vor Ort waren. Weil sie langsam sind. Weil sie müde und schlecht gelaunt sind.

Ich habe eine App, die jedes Mal vor Freude ausflippt, wenn ich anfange zu joggen. Sie gratuliert mir zu minimalen Erfolgen und freut sich für mich mit einem virtuellen Feuerwerk und Konfetti. Das habe ich im Fitnessstudio auf dem Stepper noch nie erlebt! Da kann der Trainer zehnmal an mir vorbei laufen … er kennt meinen Namen nicht, sieht meine erbärmlichen Fortschritte nicht und freut sich nicht für mich, dass ich es doch geschafft habe, meinen inneren Schweinehund zu überwinden und mich zu bewegen.

Klar, der Trainer sagt schon Hallo. Doch er betreut auf der großen Fläche viele Menschen gleichzeitig. Wenn ich Glück habe, mag er nicht nur seinen Job, sondern auch Menschen und er registriert mich … aber er wird nie so gut wie meine App sein. Und in der Gastronomie ist es oft genauso.

Ein Mensch wird natürlich anders sein als eine App. Menschlich. Und das ist im Vergleich zur KI konkurrenzlos. Wenn er sich nur menschlich verhalten würde. Vereinfacht gesagt, hat man uns in den letzten Jahren, vor allem in der Arbeitswelt, beigebracht, uns wie eine nieder entwickelte KI zu verhalten. Immer schneller, effektiver, fokussiert, effizient usw. – alles Qualitäten, mit denen man in der Arbeitswelt gut Karriere machen kann.

Sich menschlich weiterentwickeln 

Als Führungskräfte haben wir es gelernt, dass es normal ist, sich in technischen Bereichen weiter zu bilden. Neue Fähigkeiten zu erlernen, neue Sprachen. Aber sich menschlich weiterzuentwickeln, ist etwas, dem man ausweichen kann, wenn man eine „Machtposition“ hat im Sinne von: Da sind nicht mehr viele Personen, die in meinem Handeln und meinen Entscheidungen eingreifen.

Sich menschlich zu verändern, hat etwas mit Erkenntnissen und dem Überwinden von Widerständen zu tun. Jeder kann genau erklären (oder meint es zumindest), warum man ist wie man ist. Und deshalb muss man sich eigentlich nicht verändern – es macht ja Sinn, warum man so ist, wie man ist.

Während meiner Zeit als Führungskraft bin ich ständig an meine menschlichen Grenzen gestoßen. Ich konnte Dinge nicht so machen, wie ich es eigentlich wollte. Habe Dinge nicht verstanden, weil sie sich „falsch“ angefühlt oder angehört haben. Das Überwinden des eigenen Egos ist die größte Fähigkeit, die man braucht, um sich persönlich, menschlich zu entwickeln. Sich als Mensch permanent zu entwickeln, so wie man eine neue Sprache lernt, sollte ein Teil jeder Aus- und Fortbildung sein.

Momentan gibt es dafür noch nicht genügend Alternativen im professionellen Kontext. Denn wenn man beispielsweise selbst mit Yoga, Meditation und Besinnung nicht so viel anfangen kann, ist es sehr leicht, diesen Themen auszuweichen oder sie abzulehnen. Man kann sich dann leicht entziehen.

Führungskräfte mussten immer Wissen haben, Systeme aufbauen und organisieren können. Wissen wird von KI ersetzt. Fähigkeiten werden von Robotern oder Chatbots ersetzt. Systeme und Organisation kann man einkaufen. 

Der Mensch als Führungskraft: welcome to Human Leading

Human Leading bedeutet, sich als Mensch in menschlichen Qualitäten zu bilden, zu entwickeln und anderen Menschen einen Raum zu bieten, in dem sie sich entfalten können.

Der Human-Leader ist ein Mentor, Kurator und Moderator.

Egal ob Unternehmer, Geschäftsführer oder Teamleiter – die Führungskraft hat eine viel größere Bedeutung im Leben der Mitarbeiter, als man vielleicht annimmt.. Und wird mittlerweile auch als Ideal verstanden. 

Durch die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre lösen sich gelernte Strukturen, auf die man sich bisher verlassen konnte, immer mehr auf. Strukturen, in denen man bisher seine Vorbilder findet oder sich an Vorbildern reibt, um sich selbst zu finden, wie Familie, Religion – und Politik. Personen wie Donald Trump zerstören die Glaubhaftigkeit von Politikern nachhaltig und der feige und unprofessionelle Umgang von Skandalen in den unterschiedlichen Kirchen stellt moralische Instanzen in Frage.

Es ist nicht mehr ‚normal‘, dass eine Familie aus Vater, Mutter und Kind besteht. Es gibt vielfältige Familienmodelle. Alleinerziehend zu sein ist oft die Regel, Rainbow Familys werden selbstverständlicher, künstliche Befruchtung, Samen oder Eizellspenden und bald die künstliche Gebärmutter als Alternative zum Zeugungsakt, lassen uns familienähnliche Strukturen in anderen Bereichen suchen.

Das Staunen einer älteren Generation über den exzessiven Austausch einer jungen Generation über Soziale Medien hat auch etwas mit – sich „Ersatzfamilien“ zu suchen, in der Community, zu tun. Denn für eine „junge“ Generation sind die Bindungen, die sie in sozialen Netzwerken eingeht, genauso real und wertig wie „echte“ Beziehungen.

Das neue Erziehen

Auch hat sich die Art, wie wir unsere Kinder erziehen, verändert. Und das ist gut so. Das verändert allerdings natürlich auch unsere Gesellschaft – uns Menschen. Kinder sind auch schon in sehr jungen Jahren Familienmitglieder, die tiefgreifende Entscheidungen mit fällen. Die in den Alltag einbezogen werden, auf Augenhöhe sind von klein auf. Natürlich fordert man so etwas dann auch in den Unternehmen ein.

Interessant ist: Diese veränderten Erziehungskonzepte haben Auswirkungen auf die Gesellschaft. Kürzlich habe ich in einem Interview gehört, einer der Gründe, warum sich viele Menschen nicht mehr für etwas entscheiden können, sei: Sie hatten als Kind zu viele Freiheiten. Dass ihnen Reibung und Widerstand gefehlt habe.

Wenn du dir als Dreijähriger schon alles selbst aussuchst – und meistens das passiert, was du möchtest, verlernst du zu verstehen, was du möchtest. Denn du kennst den Widerstand nicht, zum Beispiel etwas zu essen oder tun zu müssen, was jetzt vielleicht nicht so toll ist. Ohne Widerstand kann sich auch nicht die Fähigkeit richtig ausbilden, zu begreifen, was man wirklich will und was nicht.

Wenn wir traditionelle Modelle ansehen, in denen der Vater oder die Mutter oder eine andere Führungskraft sagt, was richtig oder falsch ist, lernt man nicht, seine eigenen Präferenzen zu entwickeln. Wenn die Kirche mit all ihren Skandalen nicht mehr der Ort für Trost und Glaube ist, wenn sie sich selbst unglaubhaft macht, wenn die gewählten Volksvertreter zu Verrätern werden und zu Stellvertretern von mächtigen Lobbyisten …. dann sucht man Orientierung immer mehr am Arbeitsplatz.

Die Fähigkeit zu faszinieren – als Mensch – ist eine der bedeutendsten Qualitäten, die man zukünftig braucht. Learnability Quality, ständig Neues zu erlernen, ist eine weitere. Und zwar nicht nur in Bezug auf Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern auch in Bezug auf menschliche Qualitäten. 

Eine großartige Learnability Quality wäre zum Beispiel die Erkenntnis: all diese neuen Fähigkeiten habe ich gar nicht … also muss ich als Unternehmer/Besitzer in die zweite Reihe und jemand anders macht den Job. Wenn das ohne Statusverlust und finanzielle Einbußen möglich ist, würde es viele Unternehmen aus Schwierigkeiten helfen.

Was tun, wenn man selbst vielleicht nicht über so ausgeprägte Human-Leading-Qualitäten verfügt?

Eine Möglichkeit wäre wirklich, sich im Betrieb umzusehen, ob es vielleicht schon jemanden gibt, der über diese „Fähigkeit zu faszinieren“ verfügt und diese Person zu fördern und aufzubauen, sodass diese Person sich weiter entwickelt und weiter „schillern“ kann. Es wäre eine hervorragende Leanability Quality, das zu erkennen und zu tun!

Oder Unternehmer arbeiten Schritt für Schritt an ihrer Persönlichkeit. Suchen sich einen Mentor, der sie begleitet. Gerade als Führungskraft braucht man eine Person, die dabei hilft, (sich) zu reflektieren und zu lernen, sich zu entwickeln. Das kann ein Freund, ein Therapeut, ein Lehrer oder eine Person sein, zu der man aufschaut, die man aufgrund der menschlichen Qualitäten schätzt und achtet.

Eine praktische Übung, die ich selbst auch seit Jahren praktiziere: Nach jedem Sachbuch ein Buch zu lesen, das nicht mit dem Beruf zu tun hat. Ein völlig anderes Thema. Biografien zum Beispiel oder andere Sachgebiete wie Sport, Religion, Architektur oder Kunst. Es erweitert den Horizont, schafft neue Erkenntnisse, inspiriert den Geist.

Und wer nicht der Typ für Yoga und Meditation ist: Sport kann so etwas wie Meditation in Bewegung sein. Einen Ausgleich zur Stressbewältigung sollte man sich unbedingt schaffen. Die Zeiten, in denen Mitarbeiter die Rolle des Blitzableiters tolerieren, egal in welcher Form, sind vorbei. Es wird ein ethisches Verhalten auf allen Ebenen eingefordert, den ganzen Tag. 

Trauen wir uns, mehr Mensch zu sein: Mehr Human und weniger Führungskraft.

 

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Foto: Kühn

Andrea Grudda arbeitet seit vielen Jahren als Trainerin, Strategin und Speakerin in unterschiedlichen Branchen, unter anderem der Gastronomie. Hier unterstützt sie Restaurant- und Hotelteams bei Teambuilding-, -management und -transformationsprozessen. Sie unterrichtet Trendmanagement an der EMBA in Düsseldorf und hat zusammen mit Hans-Jürgen Hartauer zwei Bücher über „Power Briefing“ geschrieben. Ihr nächstes Buch widmet sich dem Thema Human Leading.  

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