Der eisige Wind: Führungskräfte bewerten sich neuerdings gegenseitig hart. Warum?

Ein Kommentar von Andrea Grudda

von Andrea Grudda
Neues Projekt 68 - management, gastronomie Der eisige Wind: Führungskräfte bewerten sich neuerdings gegenseitig hart. Warum?

Foto: Marion Sonnenberg

Es wird uns ja schon länger nachgesagt, dass wir in Deutschland immer genau wissen, wie man alles richtig macht. Das war bevor uns die Deutsche Bahn, der im Europavergleich lausig schlechte Ausbau von Glasfasern und Digitalisierung, sowie das Chaos an den Flughäfen im Sommer 2022 den Ruf versaut haben. Aber die Haltung, dass wir jedes Haar in der Suppe finden und es eigentlich viel besser wissen als alle anderen, ist geblieben.

Und Social Media befeuert das Ganze noch. Noch nie war es so einfach, eine Meinung zu haben und seinem Bauchgefühl ungefiltert Raum zu geben. Warum ich das erzähle? Weil ich mich frage, wann es passiert ist, dass in der Arbeitswelt auf einmal alle die Leistung von jedem und jeder beurteilen können. Es ist, glaube ich, mehr als eine Mentalitätssache.

Ich merke es daran, dass viele mit mir über die Leistung ihrer Führungskraft sprechen wollen. Und dabei geht es interessanterweise viel um die Leistungen der einzelnen Führungskräfte untereinander. Dass sich die Einstellung zur Arbeitswelt verändert hat, wissen wir alle. Da kann man das Rad nicht zurückdrehen. Dass Mitarbeitende sich kritisch äußern, was ihren Alltag angeht und es viel Verbesserungspotenzial gibt, ist gut. Am Ende wollen doch alle nur ihren Job machen und eine gute Zeit haben.

Neu ist für mich die harte Bewertung der einzelnen Führungskräfte untereinander. Haltungen wie: „Kümmere dich nicht um Dinge, die dich nichts angehen“ scheinen zu schwinden. Jeder und jede scheint auf einmal die Leistungen der anderen genau einschätzen zu können. Und dabei wird alles durch die Negativbrille betrachtet. Der Härtegrad der einzelnen Einschätzungen ist verwunderlich. Da kommt gleich ein: unfähig, überfordert, zwischenmenschliche Katastrophe oder „ist untragbar“, wo vor einiger Zeit noch ein „macht den Job (noch) nicht so gut“ gekommen ist.

Das ist auffallend in letzter Zeit. Es ist immer einfach, mit dem Finger auf andere zu zeigen, das kam schon immer vor. Doch das ungefragte Einschätzen der Leistung von anderen, in dieser Form, ist für mich ein Novum.

Besonders stark beobachte ich dieses Verhalten in Matrixorganisationen wie zum Beispiel in Hotelketten. Da weht teilweise ein eisiger Wind. Vielleicht, weil dort der Druck von den Mitarbeitenden in Richtung der Führungskräfte besonders gestiegen ist. In einer Welt von Individualisten ist es in den mitunter starren und engen Spielräumen großer Organisationen nicht einfach, Raum für die Bedürfnisse aller Individuen zu finden. Etwas, das in der Individualgastronomie doch einfacher zu befriedigen ist.

Also wächst der Unmut der Einzelnen in solchen Organisationen. Und das in einer angespannten Personalsituation. Diesen Druck spüren die Führungskräfte, und sie haben Angst, die wenigen, vor allem die Guten, zu verlieren. Die eigene Hilflosigkeit lässt einen dann wohl mit dem Finger auf andere zeigen. Hinzu kommt eine rohere Sprache.

Auch habe ich noch nie so oft von Mitarbeitenden gehört, dass der Chef oder die Chefin ihren Job nicht richtig mache. Und oft denke ich mir – ja, du hast recht. Was zeitgemäßes Führen angeht, ist in fast allen Unternehmen noch viel Luft nach oben. Interessanterweise sind aber gerade in großen Organisationen die Führungskräfte und besonders der G-Level, also General Manager & Co., ganz gut ausgebildet. Wissen ist meistens da. Was mehr fehlt, ist Gespür. Gespür für Situationen und einzelne Menschen. Manche lassen sich schnell anzünden. Da wird ein individueller Leidensdruck mit einer Gesamtsituation verwechselt. Es fehlt die Erfahrung, ob da wirklich ein Schmerz da ist oder ob man eventuell gerade instrumentalisiert wird für die Interessen Einzelner.

Auch fehlt oft der Mut in Situationen, in denen eine Kultur von Klatsch und Tratsch aus den Fugen gerät, ein Machtwort zu sprechen und dem Ganzen Einhalt zu gewähren. Es fehlt an zwischenmenschlicher Erfahrung, ob ein Mensch einfach gerade einen individuellen Druck ablässt oder ob da wirklich die Gesamtsituation aus den Fugen geraten ist.

„We are Family“ ist da manchmal verwirrend. In einer Familie muss man, bis zu einem gewissen Grad, akzeptieren, wie die anderen sind; man kann sie ja nicht austauschen. Den Arbeitsplatz kann man aber jederzeit wechseln. Also liegt es in der Verantwortung der Führung, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich alle wohl fühlen.

So muss man mitunter auch im Zwischenmenschlichen die Rolle der Erziehenden annehmen. Und das macht überhaupt keinen Spaß. Denn da ist man ganz schnell der Buhmann oder die Spielverderberin. Wer macht sich schon gerne unbeliebt in seinem Team?

Führungskräfte müssen gerade so viel Neues lernen, umdenken und sich permanent anpassen. Und das in einer wirtschaftlichen und personellen angespannten Zeit. Wenn einem da die Energie ausgeht, ist es vielleicht auch verführerisch, mit dem Finger auf andere zu zeigen, um den Scheinwerfer auf eine andere Baustelle zu lenken. Ich habe Führungskräfte erlebt, die es nicht geschafft haben, jeweils 3 positive Eigenschaften von ihren Kollegen oder Kolleginnen zu benennen. Nur 3! Solche Nullen können die anderen doch gar nicht sein?

Vielleicht müssen wir auch aufpassen, dass wir Feedback nicht mit Verurteilen verwechseln. Ein Feedback hat mehr mit Wirkung zu tun. Die Einschätzung einer anderen Person hat viel mit der eigenen Brille zu tun, mit der ich eine Person betrachte, da geht es viel um „wie wirkt sie auf mich“ und „wie fühlt sich der Umgang an“. Da geht es um Gefühle, und die sind launisch und tagesformabhängig. Da ist man dann mit einem Urteil schneller zur Hand als mit einer realistischen Einschätzung. Es stärkt ja auch die eigene Bedeutung, wenn man nach der Meinung zu einer anderen Person gefragt wird. Das kann schnell ein gefährliches Terrain werden.

Eine gesunde Gesprächskultur und gute Kommunikation haben auch mit der Fähigkeit zu tun, zu erkennen, was andere gut machen. Oder noch nicht können. Oder einfach mal die Klappe halten. Man muss nicht immer eine Antwort geben, wenn man aufgefordert wird, eine andere Person zu beurteilen. Sich zwischendurch an der eigenen Nase fassen, hilft bestimmt auch. Traurig wird es, wenn man vielleicht gar nicht merkt, dass man den eigenen Druck oder Ängste auf Andere überträgt.

So oft bin ich in der Situation, dass ich mir denke: „Ey, beruhigt euch mal alle. Ihr macht da gerade einen guten Job, auch wenn nicht alles und alle perfekt sind“.

Viele sind gerade sehr schnell dabei zu sagen: Die Person performt nicht richtig – die muss ausgetauscht werden. Und selbst wenn die Arbeits- und Fachkräftesituation eine andere wäre, sollte so eine Äußerung nicht so flott kommen. Das ist nur auf den ersten Blick der leichtere Weg. Ein bisschen mehr Zuversicht und Vertrauen darauf, dass Menschen sich entwickeln können, ist gerade jetzt wichtig. Wenn man ihnen zeigt, wie es geht. Nachsicht und Geduld ist doch etwas, das wir uns alle wünschen.

An dieser Stelle möchte ich mit einem Zitat des großen Philosophen und Comedians Felix Lobrecht schließen: Leute, seid doch lieb zueinander.

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