Eine kleine Hauptstadt, nur scheinbar am Rande Europas gelegen, entwickelt sich zur großen Foodmetropole und ist auf dem Weg hin zu einer eigenen kulinarischen Identität. Höchste Zeit also, Vilnius einen Besuch abzustatten.
Vilnius? Das ist in Österreich! In Italien! Oder doch in Finnland? Mit seinem Imagevideo, das eine Straßenumfrage in Berlin zeigt, bei der Passanten gefragt werden, wo denn Vilnius sei, nimmt sich die Hauptstadt Litauens sympathisch selbst auf die Schippe – und spielt mit seiner Unbekanntheit.
Vermutlich geht das nicht mehr lange. Der „Lonely Planet“ kürte Litauen soeben gar zum besten Reiseziel Europas und dem zweitbesten weltweit. Übrigens: Vilnius befindet sich im geografischen Zentrum des Kontinents, vermaß „Institut national de l’information géographique et forestière“ Frankreichs 1989. 26 Kilometer nördlich der Hauptstadt markiert eine Granitsäule mit Sternenkrone den exakten Punkt.
Esskultur mit einem Bruch
1989 ist auch das Jahr des Aufbruchs im Baltikum. Im August nahmen sich die Menschen von Vilnius über Riga bis hinauf nach Tallinn an den Händen – und formierten den berühmten Baltischen Weg, eine friedliche Demonstration für die Freiheit. Das Ende der Sowjetunion war kurz darauf besiegelt, 1990 erklärte Litauen als erstes Land des Baltikums seine Unabhängigkeit, 2004 trat es der EU bei. Diese wiedererlangte Autonomie ist natürlich gesamtgesellschaftlich, aber auch kulinarisch relevant. Denn zu Sowjetzeiten erging es der traditionellen Küche wie anderen Brauchtümern schlecht. Bestimmte Gerichte wurden quasi-staatlich verordnet, andere verschwanden vom Speiseplan und aus den Leben der Menschen.
Eine neue Welle
Heute, rund 35 Jahre später, prosperiert die litauische Küche wieder. Das merkt man an allen Ecken von Vilnius. Auf den Wochenmärkten, auf denen man sich durch die fantastische Brotkultur hindurch probieren kann, in den zahlreichen gutbürgerlichen Restaurants – und seit einiger Zeit auch in der neuen Gourmetküche von Vilnius. Vor rund sieben Jahren habe in Vilnius eine neue Bewegung begonnen, erklärt Denise Wachter. Sie ist die Genuss- und Kulinarikexpertin des Nachrichtenmagazins Stern. Eine Hälfte ihrer Familie stammt aus Litauen und sie hat kürzlich das erste deutschsprachige Kochbuch zur Landesküche, genauer zur Stadtküche von Vilnius herausgebracht, das neben ihren eigenen Rezepten von der kultigen pinken Suppe Šaltibarščiai über Cepelinai (Kartoffelklöße) bis hin zum litauischen Carbonara-Twist mit Pfifferlingen auch Kreationen von Köchinnen und Köchen, Barprofis und Menschen des Genusshandwerks aus der Stadt vorstellt.
Puristische Freude
Darunter auch das Tartar vom Rind aus dem Džiaugsmas, zu Deutsch „Freude“, das als erstes Fine-Dining-Konzept modernen Typs die neue Gourmetwelle von Vilnius lostrat. Schwarze Wände, viel mattdunkle Tableware und Spots richten den Fokus ganz auf das Geschehen auf dem Teller.
Gründer und Küchenchef Martynas Praškevičius, Autodidakt, gilt als scheu und lässt lieber seine Speisen für sich sprechen. Sie schaffen gekonnt den Spagat zwischen rustikal und fein, regional und international: Krustade mit Kalbsbries, Waldpilz-Mayonnaise, Hähnchenhaut-Chips und Calamansi oder eine knusprige Heilbuttcroquette mit Estragon-Sauce, Kombualge und Chili etwa werden den Gästen serviert.
Mamas Dumplings
Licht und in einem großen Raum mit offener Küche, an der die Gäste auch direkt Platz nehmen können, präsentiert sich das Nineteen18. Es ist nach einem Umzug nun in den „Senatorių Pasažas“ gelegen, einem poshen Hof mit Boutiquen, Feinkostläden und mit einem weiteren Restaurant, dem 14Horses. „Nineteen18“-Küchenchef Andrius Kubilius serviert seinen Gästen u.a. wunderbare Steinpilz-Dumplings, basierend auf dem Rezept seiner Mutter. Als Musikerin im litauischen Nationalorchester war sie oft wochenlang auf Reisen und kochte bergeweise Teigtaschen für Sohnemann vor.
Viele der Zutaten des Restaurants stammen vom eigenen Bauernhof, der sich in Radiškis, einem kleinen Dorf nördlich von Vilnius befindet, nebst dem Restaurant Red Brick. Was man nicht direkt lokal beziehen kann oder will, sourct man rund um die Ostsee: Das Fleisch etwa stammt von alten Milchkühen aus Dänemark.
Taco auf Litauisch
„Durch die sowjetische Okkupation waren wir lange eine unterentwickelte kulinarische Region. Jetzt wollen wir der Welt zeigen, was wir aus den Produkten unserer Region machen können“, erklärt Kubilius. Entweder könne er traditionelle Gerichte mit neuen Zutaten aus der ganzen Welt verfeinern, sagt er. Oder er nehme lokale Zutaten und sublimiere sie mit Techniken aus anderen Landesküchen. „Für mich ist das Zweite wesentlich interessanter“, sagt er. Perfekt veranschaulicht dies sein „litauischer Taco“ (Headerbild oben): fermentierte rote Bete, Salzgurken und Kümmel, Aal, Wolfsbarsch, fermentierte schwarze Johannisbeeren in einer Schwarzbohnen-Tortilla. Zusammengeklappt, in den Mund geschoben, fabelhaft.
Kreative Vilnius-Küche
Kubilius’ Kollegin, Vita Bartininkaitė vom „Pas mus“, verfolgt einen ähnlichen Ansatz. Sie nutzt beispielsweise japanische Fermentationstechniken. Vom Koji-Reis, der die Grundlage für das Dashi zum so grob geschnittenen wie grandiosen Tartar bildet, dürfen wir naschen. Wunderbar süßlich.„Creative Vilnius cuisine“ nennt Bartininkaitė ihre Küche: Produkte aus Litauen kommen mit traditionellen, aber eben auch „importierten“ Techniken aus dem Ausland auf wunderbar individuelle Teller und Schalen, die sie für ihr Restaurant zusammengetragen hat. Auch Stammgäste brachten welche vorbei. Was den persönlichen Charakter des kleinen Restaurants unterstreicht, das zu Deutsch passend „bei uns“ heißt.
Die junge Gastronomin, die zuvor im ersten Standort des „Nineteen18“ tätig war und sich in der Kopenhagener Institution „Geranium“ fortgebildet hat, liebe Brot, erklärt sie. Merkt man: Es ist so viel mehr als eine sättigende Begleitung, sondern eine hausgebackene, kleine Offenbarung – dunkel, malzbetont, mit Kümmel. Wir bestellen gleich zweimal nach.
Litauen ist jetzt Michelin-Land
Das „Pas mus“ trägt, wie das „Nineteen18“ und das „Džiaugsmas“, einen Michelinstern. Litauen hat seit 2024 einen eigenen Michelin-Guide und komplettiert damit dessen Repräsentanz im Baltikum. Insgesamt 32 Betriebe listet die erste Ausgabe des Guide, das Gros in Vilnius. Vier erhielten einen ersten Stern. Ihn vergaben die Inspektoren auch ans Demoloftas, das sich in einem Wohn- und Gewerbeviertel im Westen der Stadt befindet. Es war auch tatsächlich ursprünglich eine Wohnung, genauer: ein lichtdurchflutetes Loft, dann ein Shop und ist seit 2021 eine Gastronomie – im Bad gibt es noch eine Dusche. Gestartet als nachbarschaftlich ausgerichtete Kaffeebar mit – übrigens hervorragendem – Lunchangebot, richtete man sich schon bald darauf am Abend gen Gourmet aus.
Invasive Tier- und Pflanzenarten im Menü
Das Tasting-Menu – die von Küchenchef Tadas Eidukevicius und Team verwendeten Zutaten listet man detailliert auf der Karte auf – wolle Essen kunstvoll inszenieren, aber auch auf Umwelt- und Gesellschaftskonflikte hinweisen, erklärt uns der junge Sommelier des Hauses, Gytis Pečiulis (überhaupt: die Menschen, die die „New Baltic Cuisine“ entwickeln, kochen und servieren, scheinen allesamt jung zu sein). So verwende man als Zutaten gerne invasive Arten von Fischen/Tintenfischen bis hin zu Algen und Seegras, die in der Ostsee nicht heimisch sind. Was deren Ausbreitung freilich nicht wirklich begrenzt, aber symbolisch thematisiert.
In einem anderen Gericht zeigt sich, bei aller Unterschiedlichkeit der gastronomischen Konzepte, der rote Faden wieder: Hier ist Italien das „Behältnis“, das man für seine Neuinterpretation heimischer Küche nutzt: das Kartoffel- und Kohlgericht „Dzūkiška banda“, wegen seiner überschaubaren Zutatenzahl auch zu Sowjetzeiten verbreitet, so Pečiulis, kommt jetzt als runder Twist, nämlich als Pizza. Die essen die Litauer heute nämlich mindestens so gerne wie die Menschen im restlichen Europa.
Geheimtipp: ein indisches Restaurant
Stichwort Pizza: Internationale Esskultur gibt es in Vilnius auch jede Menge – etwa georgische oder koreanische Restaurants, amerikanisches All-Day-Breakfast und vieles mehr. Das indische Restaurant „Gaspar’s“ zähle gar zu ihren absoluten Vilnius-Favoriten, erklärt Denise Wachter. Gründer Gaspar Ferndandes, der 2015 aus Goa nach Litauen kam, portraitiert sie mitsamt Garnelencurry-Rezept in ihrem Buch. Die viel reisende Genussexpertin schätzt die Aufbruchsstimmung der Gastronomie der Stadt: „Hier entwickelt sich noch so viel, es ist hier noch nicht so glatt wie andernorts. Es gebe eine große Rückbesinnung auf die kulinarischen Wurzeln in dieser von Kriegen, Okkupationen und Vertreibungen im 20. Jahrhundert so gebeutelten Stadt, erklärt sie – und das mit einem frischen und jungen Ansatz.
Vilnius: Perfekt für die Gastro-Inspiration
Keine Frage: Vilnius ist auf dem Weg hin zu einer eigenen Esskultur und kulinarischen Identität. Eine Reise wert? Aber ja! Und wegen der kurzen Wege, der guten Flugverbindungen (v.a. mit Air Baltic) und nicht zuletzt der im internationalen Verhältnis noch moderaten Menüpreise auch ganz besonders für Inspirations-Trips gastronomischer Betriebe.
Mehr Informationen:
www.govilnius.lt (im Guide Delicious Vilnius gibt es Gastro-Tipps von Einheimischen)