
Nicolas Decloedt und Caroline Baerten. Foto: Unternehmen
11:1, das könnte das Endergebnis einer sehr einseitigen Tischtennispartie sein. Tatsächlich handelt es sich hier allerdings nicht um ein Match, sondern um das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Spitzenköch*innen, die beim diesjährigen St. Moritz Gourmet Festival das Programm exklusiven Hotelküchen das Programm gestalteten. Die „1“ – das ist Caroline Baerten, Sommelière, Gastgeberin und Mitbegründerin des veganen Restaurants humus x hortense in Brüssel.
Eröffnet wurde es 2017 mit einer kulinarischen Vision, die von den Prinzipien der „botanischen Gastronomie“ geprägt ist. Dieses innovative Konzept entwickelte Caroline gemeinsam mit ihrem Lebens- und Geschäftspartner Nicolas Decloedt. Es definiert die Möglichkeiten der pflanzenbasierten Fine Dining neu, die Gäste erleben ein „rendez-vous botanique“, so wird es poetisch und prominent zugleich auf der Website beschrieben. Grund genug, mit Caroline über Gleichberechtigung, Diversität und Nachhaltigkeit zu sprechen.
Caroline und Nicolas, was ist eure Mission und was macht humus x hortense so einzigartig?
Nicolas: Humus x hortense ist das erste rein pflanzliche Fine-Dining-Restaurant in Belgien, das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde. Unsere Mission ist es, der kulinarischen Welt zu zeigen, dass pflanzliche Küche eine der vielen kreativen Ausdrucksformen der Gastronomie sein kann – ohne dabei tierische Produkte zu verwenden. Das Humus x hortense ist eine Plattform für nachhaltige Best Practices, die nicht nur Essen und Getränke umfasst, sondern sich auf alle Aspekte unseres Restaurantbetriebs.
Könnt ihr eure Zusammenarbeit im Restaurant beschreiben? Wer ist für welche Aspekte verantwortlich? Habt ihr eine klare Aufgabenverteilung oder entscheidet ihr alles gemeinsam?
Caroline: Wir sind beide Gründer von humus x hortense und leiten gemeinsam das Restaurant. Gemeinsam entwickeln wir auch alle Rezepte und Gerichte für das Degustationsmenü, wir sind beide ausgebildete Köche. Dazu gehört die Auswahl der Zutaten basierend auf 24 Mikro-Jahreszeiten, die Testphase neuer Rezepte sowie die Ideen für das Anrichten der Gerichte. Nicolas ist für die Testküche und für die Küche und das Küchenteam verantwortlich, ich bin für den Getränkebereich, die Kreation und Produktion der Getränke zuständig. Unsere Getränke sind kein separates Element des Degustationsmenüs, sondern eine geschmackliche und sensorische Erweiterung der Gerichte.
Caroline, du bist nicht nur Sommelière und Ernährungswissenschaftlerin, sondern auch Kunsthistorikerin, Psychotherapeutin und Traumatherapeutin: Als Gründerin des Centre MeNu in Brüssel vereinst du deine Expertise aus der klinischen Psychologie (VUB Brüssel), EMDR-Therapie, Ernährungswissenschaft und Achtsamkeitspraxis, um Menschen mit Essstörungen, stressbedingtem Verhalten und Traumata zu unterstützen. Wie profitiert Humus x Hortense von deinem vielseitigen Wissen?
Als Ernährungswissenschaftlerin arbeite ich ganzheitlich – gesunde Ernährung bedeutet für mich lebendige Nahrung. Ich achte nicht nur auf den Nährwert unseres Degustationsmenüs, sondern auch auf die Qualität der Zutaten, die aus biologischem und biodynamischem Anbau stammen.
Besonders großen Wert lege ich auf hochwertige Mitarbeiterverpflegung mit pflanzlichen Proteinen, um unser Team bestmöglich zu unterstützen. Alle Mitarbeitenden erhält von mir eine Einführung in ernährungswissenschaftliche Grundlagen.
Als Kunsthistorikerin liegt mein Fokus auf Schönheit, die sich in Kunst und Handwerk ausdrückt – so schaffen wir für unsere Gäste ein immersives und ganzheitliches Erlebnis. Seit 16 Jahren betreibe ich mein eigenes Keramikstudio in Brüssel, in dem ich das Geschirr für das Restaurant anfertige – abgestimmt auf die Farben der Jahreszeiten und die Bedürfnisse jedes Gerichts.
Meine psychologischen Kenntnisse fließen vor allem in den Bereich Human Resources ein. Die Zufriedenheit und das Wohlbefinden unserer Mitarbeitenden sind essenziell. Es wäre paradox, sich für Umwelt- und Tierschutz einzusetzen, aber nicht für unser Team zu sorgen. Ich konzentriere mich daher auf Gruppendynamik, ein sicheres Arbeitsumfeld sowie Einzelgespräche mit den Mitarbeitenden, in denen ich nicht nur ihre fachlichen Fortschritte, sondern auch ihr persönliches Wohlbefinden beurteile.
À propos multiprofessionell: Nicolas Decloedt ist gelernter Fotograf und bringt seine Erfahrung und Expertise in das kreative Anrichten der Gerichte ein.
Ihr bezieht eure Zutaten vorwiegend von regenerativen landwirtschaftlichen Betrieben und verfolgt den Ansatz der „botanical gastronomy“. Neben einem Michelin-Stern habt ihr auch den Grünen Stern für nachhaltige Gastronomie erhalten. Was bedeutet Nachhaltigkeit für euch im täglichen Restaurantbetrieb?
Nicolas: Wir haben ein detailliertes Nachhaltigkeitspapier und jede*r Mitarbeitende erhält bereits am ersten Arbeitstag eine Einführung in nachhaltige Best Practices durch einen dafür zuständigen Koch oder eine Köchin.
Es wird alles Essbare einer Pflanze verwendet – Schale, Wurzel, Blatt, Frucht. So stellt Caroline ein Kurkumabier nach dem Vorbild des Gingerbeers aus der Schale des Kurkumas her, der in der Küche verwendet wird. Beim Dinner im Hotel Kronenhof wurde das Gericht „Blumenkohl-Kurkuma“ vom Kurkumabier begleitet. Das Amuse war ein Karottencreme in einem Zylinder aus dünn geschnittenen Karotte, bestäubt mit der gerösteten und zu Puder verarbeiteten Schale der Karotte.
Zusammen mit Nicolas hat Caroline bereits 2008 den Begriff „botanische Gastronomie“ geprägt, dieses Konzept basiert auf fünf Grundsätzen:
- 100 % pflanzenbasierte Zutaten
- Soil-to-Plate: Gesunde Böden sind die Basis nachhaltiger Ernährung
- hyperlokale Zutaten aus einem Umkreis von 100 Kilometer
- 24 Mikro-Jahreszeiten, die dem natürlichen Rhythmus der Natur folgen
- Zero-Waste-Prinzip, gegen Lebensmittelverschwendung
- Ihr Engagement wurde international anerkannt: 2019 wurde humus x hortense als „Best Vegan Restaurant of the World“ ausgezeichnet, 2021 erhielt es den Michelin Green Star, 2023 als erstes rein pflanzliches Restaurant den Michelin Red Star.
- Weitere Ehrungen: der „Sustainability Award“ von Gault & Millau, die Top-Platzierung in der 360°Eat Guide, sowie die Aufnahme in die Liste der 11 besten veganen Fine-Dining-Restaurants Europas von National Geographic.
24 Mikro-Jahreszeiten, das klingt nach viel Bewegung auf der Karte – und so ist es: Caroline und Nicolas arbeiten unter anderem mit Steven Desair von Eatmosphere und Dries Delanote zusammen, einem Botaniker und „wilden“ Gärtner, der in der Nähe von Brüssel eine Gärtnerei auf der Basis von Permakultur betreibt. Die Kollaboration besteht seit 2008, bevor ‚humus x hortense‘ eröffnet wurde, und sie geht so: Dries bietet Gemüse, Obst oder Kräuter an – und das Küchenteam entwickelt daraus das Menü. Die Menüs richten sich nach den Pflanzen, die den optimalen Reifestatus haben. Manche Gänge bleiben länger auf der Karte, manche kürzer, das Menü ist in stetem Wandel. So arbeitet das Paar mit einem belgischen Safranproduzenten zusammen, beziehen ihr Mehl von einer alten restaurierten Mühle im Brüsseler Umland, nutzen Verjus oder Essig für Säurenoten. Der Garten als Zentrum, die Speisen und Getränke richten sich nach dem Ergebnis der Ernte.
Es wurde bereits viel über Frauen in der Gastronomie geschrieben, doch auf Food-Festivals dominieren nach wie vor männliche Köche. Wie erlebt ihr dieses Ungleichgewicht?
Caroline: Wie in vielen anderen Arbeitsbereichen gibt es auch in der Gastronomie immer noch ein Ungleichgewicht: Die Arbeit von Frauen wird oft nicht ausreichend anerkannt – sei es durch mangelnde Talentförderung, eingeschränkte Aufstiegsmöglichkeiten, ungleiche Bezahlung, Sexismus im Team oder fehlende Sensibilität für Themen wie Menstruation, Schwangerschaft oder Kinderbetreuung. Als weibliche Führungskraft – mit Nicolas als wichtigem Verbündeten in diesem Wandel – habe ich unser Restaurant bewusst frauenfreundlich gestaltet: Aktive Unterstützung beim Aufstieg in der Branche und Coaching für mehr Selbstvertrauen außerdem gleiche Bezahlung basierend auf Fähigkeiten und Erfahrung – unabhängig vom Geschlecht. Gespräche über Themen wie PMS, kostenlose Hygieneartikel und Respekt für den natürlichen Zyklus der Frau. Und: null Toleranz für Sexismus.
Nicolas nimmt nur an Food-Events teil, wenn Caroline ebenfalls eingeladen wird. Wird das akzeptiert? Wie reagieren die Veranstalter darauf?
Nicolas: Wir bemerken, dass sich die Mentalität langsam ändert und Veranstalter offener dafür sind, mehr Frauen auf die Bühne zu holen.
Caroline: Allerdings liegt es auch an den Frauen selbst, diese Einladungen anzunehmen. Viele talentierte Köchinnen scheuen sich vor öffentlichen Auftritten – oft aus Angst vor Kritik oder dem Gefühl, nicht gut genug zu sein („Impostor-Syndrom“, Anm. d. Red). Ich selbst stehe nicht gerne im Rampenlicht – das entspricht einfach nicht meinem Charakter. Doch es braucht starke weibliche Vorbilder. Jede Frau, die auftritt, ermutigt andere, es ebenfalls zu tun.
Gibt es eine positive Entwicklung? Denken Event-Organisatoren um? Werdet ihr als Duo eingeladen?
Caroline: Nicolas erhält nach wie vor die meisten Einladungen, doch wir erklären den Veranstaltern unser Konzept. Bisher wurde es noch nie abgelehnt. Nicolas nutzt seine Position als männlicher Koch, um Frauen in der Gastronomie eine Bühne zu bieten. Oder wie das Parabere Forum es formuliert: ‚Starke Frauen – und starke Männer – stärken andere starke Frauen.‘
Caroline, hast du das Gefühl, dass du in dieser männlich geprägten Branche besonders viel leisten musst, um Anerkennung zu erhalten?
Caroline: In unserem Restaurant werden Frauen und Männer gleichberechtigt behandelt. Doch auf Award-Zeremonien wie Michelin oder Best Vegetable Restaurants fällt auf, dass oft nur Nicolas’ Name auf der Leinwand erscheint. Wir treten immer gemeinsam auf, um diese männliche Dominanz auf der Bühne zu durchbrechen. Dennoch sehen wir oft, dass andere Köche ihre weiblichen Partnerinnen oft bei Preisverleihungen einfach im Publikum sitzen lassen. Ein weiteres Problem ist, dass selbst Journalistinnen oder Influencerinnen Köche priorisieren. Ich wurde mehrfach von Frauen diskriminiert – nicht von männlichen Journalisten. Ein Beispiel: Eine Reporterin wollte ein Porträt ausschließlich von Nicolas verwenden, obwohl das Interview mit uns beiden geführt wurde. Als wir ablehnten, wurde der Artikel nicht veröffentlicht.
In Deutschland gibt es aktuell Initiativen wie Chef:in, eine Plattform zur Förderung von Frauen in der Gastronomie. Haltet ihr solche Programme für sinnvoll?
Caroline: Ich unterstütze solche Initiativen auf jeden Fall. Allerdings bringt es wenig, das Thema zu polarisieren – nach dem Motto „Frau = Opfer, Mann = Täter“. Wir brauchen systemische Veränderungen, aber auch Männer profitieren davon. Studien zeigen, dass ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis bessere Arbeitsbedingungen schafft.
Wird sich das Geschlechterverhältnis in der Gastronomie in Zukunft verändern? Was muss passieren, damit echter Fortschritt gelingt?
Ich bin optimistisch! Ich sehe eine talentierte Generation von Frauen, die ihren Platz einfordert – und immer mehr Männer in Machtpositionen, die bereit sind, diesen Raum mit ihnen zu teilen. Jede Frau, die auftritt, ermutigt andere, es ebenfalls zu tun.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview mit dem Paar fand im Hotel Kronenhof statt, genauer in einem der ältesten Teile anno 1848 , einem kleinen holzgetäfelten Raum mit Erker. Fun Fact: Angel Bianco, der hochprofessionelle und auch zur Geschichte des Hauses bestens informierte Concierge des Hauses berichtete, dass die alte Frau Gredig, Patronin der Gründerfamilie, hier im Erker zu sitzen pflegte und mit Blick auf den Eingangsbereich die ankommenden Gäste taxierte. Je mehr Koffer der Reisenden aus den Kutschen geladen wurden, desto höher wurde der Zimmerpreis angesetzt. Ein Page informierte dann sofort das Personal an der Rezeption – und die Zimmerrate entsprechend angepasst.