Der Biermarkt ist in Bewegung: Angestoßen durch kleine Brauereien, wächst das Interesse an der Vielfalt des Produkts. Nun fangen nun auch die Großen der Branche an, abseits vom Einheitsgebräu Neues auszuprobieren. nomy mit einem linklastigen Überblick.
Neulich, bei einem Besuch in Hamburg: Am Hauptbahnhof eine Litfass-Säule mit einer Bier-Reklame. Nichts besonderes erstmal, wäre da nicht dieser Text: „Ein Rotbier mit bernsteinroter Farbe und einem Hauch von Karamell. Da will man doch am liebsten sofort von naschen.“ Wohl gemerkt: Bierwerbung, doch die geschmacklichen Nuancen des Produkts werden angepriesen, als handele es sich um eine Süßigkeit. Bier, naschen? Vor fünf, sechs Jahren, als sich die Branche höchstens in der Reduktion der Bitter-Einheiten einen Wettkampf lieferte, wäre eine solche Aussage undenkbar gewesen, wäre nicht verstanden worden, wäre schlicht rausgeschmissenes Geld gewesen. Jetzt aber scheinen gute Zeiten für ein Produkt angebrochen zu sein, das viel zu schade ist, um möglichst immer nur gleich zu schmecken.
Alternativen gibt es immer mehr, überall im Lande entstehen neue regionale Produkte oder werden alte Marken wieder aktiviert. Das Interesse an individuellen Bieren wächst. Ebenso steigt die Zahl der Medienberichte über Brauereien wie Rollberg aus Berlin-Neukölln, Pale Ale aus München, Bergmann Bier aus Dortmund oder über Hausbrauereien wie Hops & Barley. Biere schaffen es heute leichter denn je in Bars und ergänzen das Programm. Der Bar Convent Berlin hat in diesem Jahr erstmals dem Bier einen Schwerpunkt gewidmet. Events rund ums Bier finden wachsendes Interesse: die oben in der Litfass-Werbung angesprochene Marke Ratsherren hat im Herbst ein Craftbeer-Fest zusammen mit anderen Marken (!) in Hamburg ausgerichtet, in München feierte im April das Bier-Festival Braukunst Live! Premiere und wird im März 2013 wiederholt. Auf der Grünen Woche 2013 in Berlin wird sich eine vergrößerte Ausstellungsfläche dem Trend-Thema Bier widmen.
Es entstehen Gastronomie-Konzepte rund um die Bier-Vielfalt, wie Das Meisterstück in Berlin mit rund 70 Craft-Bieren oder das Maria Eetcafe in Köln, das ein Dutzend belgischer Biere anbietet und seinen Gästen für jede Verkostung der Spezialitäten einen Stempel in den „Bierpass“ drückt. Selbst das Branchen-Sorgenkind Altbier wird mit einem Konzept wie dem Kürzer in Düsseldorf und seinem zeitgemäß designten Produkt wieder interessant für neue Zielgruppen gemacht. Kommunikations-, Marketing- und Vertriebskonzepte wie Braufactum, Braumeister.tv, Die freien Brauer oder Bier-Deluxe sind in den letzten Jahren entstanden. Es ist Bewegung im Markt. Selbst die digitale Welt hat der Trend schon erreicht: Wer im Craft-Beer-Land USA oder anderswo auf der Welt nach einem besonderen Bier sucht, dem helfen Anbieter wie Ratebeer oder Taplister weiter. Wer sich dem Thema filmisch nähern möchte, sollte sich den Dokumentarfilm Beer Wars anschauen, der sich ganz der Logik „große Marke = austauschbares Mainstream-Produkt vs. Microbrewery = individuelle Vielfalt“ verschrieben hat.
Der Film wurde 2009 veröffentlicht, heute haben auch die „Großen“ längst mitbekommen, dass die Konsumenten Durst auf „besonderes Bier“ bekommen haben. Und reagieren: Budweiser USA hat das Project 12 lanciert, in dem die zwölf Braumeister des US-Giganten Anheuser-Busch „small batches“ kreierten und Konsumenten abstimmen ließen, welche drei davon als limitierte Editionen in den Markt kommen – zurzeit sind die drei Produkte im Verkauf. Und in Deutschland? Neue Produkte wie Krombacher Dunkel oder Warsteiner Herb sind zumindest als erste Reaktionen auf das Bedürfnis nach intensiverem Geschmack zu verstehen. Die Kölsch-Brauerei Gaffel, die mit ihrer Fassbrause einen Produkttrend in der Bierbranche mit einer Vielzahl von Nachahmern ausgelöst, testet in seinem Haus-Ausschank Gaffel am Dom zurzeit das Produkt Mondhopfen mit tasmanischem Galaxy-Hopfen. Das Bier hat eine „leichte Brombeernote“. Da will man doch sicher auch sofort von naschen…
Zum Abschluss noch ein Gedanke: Der Pro-Kopf-Verbrauch von Bier ist seit Jahren bekanntermaßen rückläufig. Ein erneuter Anstieg durch die kleine, sich gerade andeutende Bier-Renaissance aber ist nicht zu erwarten, zumindest nicht in höherem Ausmaß. Warum? Bier konkurriert heute mit vielen anderen Produktsegmenten, alkoholfreien wie alkoholischen, um die Gunst des Konsumenten. In diesen Produktsparten, denken Sie an Limonaden (heute und vor zehn Jahren) oder an Spirituosen (heute und vor zehn Jahren), hat sich enorm viel bewegt. So, wie die ARD heute mit vielen anderen TV-Sendern und anderen Medienangeboten konkurriert (zum Beispiel diesem Medium hier, das den Autor seit knapp zwei Stunden im „lean forward-Modus“ unterhält), so muss auch das Bier sich in der neuen Getränkevielfalt durch ein spannendes Programm behaupten, um im allgemeinen Rauschen der Regale Empfänger zu erreichen. Es ist keine Rückkehr zum überschaubaren Markt analog zur alten Drei-Sender-Medienwelt zu erwarten.
Und außerdem: Bier ist heute ein Genussprodukt, kein Lebensmittel mehr. Früher wurde viel mehr Bier tagsüber getrunken, unter anderem am Arbeitsplatz, und dieser Tagsüber-Konsum ist heute praktisch weg. Weniger „daily talk“, dafür etwas mehr Kulturprogramm am Abend: Sehr zum Wohl!