Einen „tipping point“ nennt man den Moment, in dem aus einer kleinen, schon länger schwelenden Bewegung eine große Veränderung wird.
Zum Beispiel, wenn auf einmal so viele Leute in einer Stadt Fahrrad fahren, dass die Stadt die Fahrradfreundlichkeit mit eigenen Wegen, Abstellplätzen und anderen Dingen unterstützt – und noch mehr Leute aufsatteln. Oder dann, wenn so viele Freunde auf einem sozialen Netzwerk sind, ein Handy besitzen, dass man sich auch anmeldet, sich auch eins kauft. Wer mehr über „tipping points“ wissen will – ich empfehle dieses Buch.
Was das alles mit dem Bierfestival Braukunst live! zu tun hat? Nun, vielleicht hat sich auf dem diesjährigen Event ein solcher „tipping point“ ereignet. Vielleicht ist es übertrieben, vielleicht ist es nur mein „innerer tipping point“. Mich interessiert schon immer, ob und wann bestimmte Entwicklungen für breitere Zielgruppen interessant werden. Nach dem Besuch des Events habe ich jedoch das Gefühl: ja. Bier ist soweit. Wenn sich ein großer Marktteilnehmer der Bierwelt, in diesem Falle Pilsner Urquell, mit einer limitierten Version seines Stammprodukts in den Reigen eines Brauspezialitäten-Events einreiht, ist das ein Impuls für die anderen Großen: Seht her, Ihr dürft Euch auch trauen, mal mit Eurem Produkt nach vorne zu gehen, damit zu arbeiten und nicht immer nur tolle Kommunikation drumherum zu stricken. Für die Kleinen: Seht her, Ihr habt etwas bewegt, Eure langjährige Pionierarbeit und Leidenschaft macht ein Traditionsprodukt in seiner Gesamtheit wieder spannend für diejenigen, um die es letztlich geht – die Konsumenten. Vielleicht stößt es manchem Pionier sauer auf. Doch wäre es nicht schade, wenn nur eine eingeschworene Gemeinde von fachkundigen Bierfans in den exklusiven Genuss dessen käme, was die Bierwelt an spannenden alten wie neuen Produkten bietet? Wäre es nicht schön, wenn es überall eine tolle Auswahl gäbe, für jeden Geschmack etwas? In vielen Gastronomien kann der Gast bereits aus einer Vielzahl von hochqualitativen und besonderen Spirituosen wählen. Auch beim Wein hat sich viel getan. Auch außerhalb der Metropolen, auch in „mainstreamigen“ Konzepten. Es ist jetzt Zeit für Bewegung im Biermarkt.
Pilsner Urquell hat für die Braukunst live! kein IPA aufgelegt. Auch kein Spezialitäten-Vertriebskonzept abseits des Kernprodukts aufgebaut. Nein, „PU“ schenkt sein Pilsbier aus, in einer besonderen Form: unfiltriert, aus dem Holzfass, nur wenige Tage haltbar. Ein kleines bisschen bitterer als das normale Pilsner Urquell (das immerhin auch schon 39 Bittereinheiten hat) ist diese Sonderauflage, die auch Besuchern im Brauhaus ausgeschenkt wird und demnächst auch auf Events in der deutschen Gastronomie. Harmonisch schmeckt es durch seine karamellige Süße im Abgang. Daneben gibt es auch das reguläre Produkt am Stand – zu Recht, denn es hat einen Ursprung, der heutigen Craft Beers ähnelt. 1842 hatte der Braumeister des damaligen Bürgerlichen Brauhauses Pilsen eine völlig neue Kategorie geschaffen, Pils. Zuvor wurde hier nur dunkles, obergäriges Bier gebraut. Die Verwendung untergäriger Hefe – ein Novum. Hätte jener Brauer, Josef Groll hieß er, damals keinen Experimentierwillen bewiesen, vielleicht gäbe es heute kein Pils.
Auch damals kam es zum „tipping point“: Schon in den 1870er Jahren exportierte man mehr als die Hälfte des neuen Bieres allmorgendlich per Zug Richtung Wien. 1913 stieß die Brauerei bereits eine Million Hektoliter Pils aus, für damalige Zeiten eine wirklich große Menge. Zahlreiche Nachahmer in und um Pilsen und darüber hinaus traten auf. Der Rest ist bekannt, heute ist der Typus Pils fast flächendeckend Standard in Deutschland.
Aber muss das bedeuten, dass die Geschichte des Bieres damit zu Ende ist? Wohl kaum. Dass der Markt vor Veränderungen steht, zeigen viele Produkte und Ideen, denen wir auf der Braukunst live! und anderswo begegnen. Seien es die Barley´s Angels Deutschland, die mobil machen wollen gegen „Frauenbier“ und gegen das Pauschalurteil, Bier sei ein „männliches“ Getränk. Sei es der Eiskalt Gehopfter Hallodri von Hofbräu (mit Mandarina Bavaria Hopfen gehopft), die neue TAPX Meine Sommer Weisse von Schneider oder das unglaublich fruchtig-leckere Pale Ale von Fritz. Ständig stößt man auf Neues. Warum sollte es nicht wieder Zeit für einen „tipping point“ sein, der Vielfalt für Viele entstehen lässt?
Frank Böer, Veranstalter der Braukunst live!, wird nicht müde zu betonen, dass sein Event „keine Briefmarkenmesse“ ist, sondern der gesamten Branche etwas bringen soll (wie er auch im nomy-Interview unterstrich). „Es wird der Tag kommen, da wird eine große Brauerei die unabhängigen Craft Brewer zu Workshops einladen. Vielleicht spricht man über Qualitätsmanagement, vielleicht braut man zusammen ein Bier. Es wird Zeit, in dem Spirit zusammen zu arbeiten, der in anderen Branchen ganz normal ist“. Da hat er recht.
5 Kommentare
Schöne Einleitung, danach Gratulation den Pressetextern von PU. Bier wird jedoch weder vom Gastronomie-Außendienst noch von Medienbüros noch von Managern gebraut sondern von Braumeistern.
Sei es bei SAB Miller/Pilsner Urquell, Heineken-Paulaner/Brauerei im Eiswerk noch bei Radeberger/Braufactum.
Bestes Zitat auf der BKL dazu: Den besten Wein kauft man auch bei kleinen, unbekannten Winzern!
Hmm – wir da an einer Legende gestrickt, oder sind wir nun völlig in der Peripherie gelandet? Pilsner Urquell hat – mit Verlaub – mit der Renaissance des Brauens von gutem Bier in Deutschland nun wirklich nix zu tun. Da sind doch vor allem die vielen Microbreweries zu nennen, die weder Kapazität noch Zeit haben, auf der Barukunst live einen Stand zu finanzieren. Das können nur die Kollegen mit einem gehörigen Marketing-Budget, und da sind – von den neuen guten Brauereien, die den Trend der Microbreweries aufgegriffen haben, wohl in erster Linie Braufactum, Camba, Crew zu nennen – marketinggeprägt allesamt, aber qualitativ und geschmacklich sehr fein. Dass die grossen Brauereien a dabei sein wollen – geschenkt. Dass unsere vorzüglichen Franken diese Messe vielleicht gar nicht mitgekriegt haben und nicht mit ihren Besten vetreten waren – schade! Dass die Plörre, die jeden Tag breitflächig in den Medien als „Bier“ beworben wird, endlich Konkurrenz kriegt – Zeit wird´s! Aber an Pilsner Urquell liegt das alles ganz sicher nicht.