Aperitif-Kultur in Deutschland? Ein gastrosophisches Gespräch im Caffè Torino Berlin

von Redaktion
apertivotalk 690x460 - wein, spirituosen, getraenke, events Aperitif-Kultur in Deutschland? Ein gastrosophisches Gespräch im Caffè Torino Berlin

Ein Aperitivo im „Caffè Torino“

Wer das Café „Diderot“ im Prenzlauer Berg in Berlin kennt, wird es dieser Tage kaum wiedererkennen. Denn für kurze Zeit, noch bis zum 6. November, hat es sich zum „Caffè Torino“ gewandelt, eine Popup-Vermoutheria von Martini.

Ganz im italienischen Stil und unter dem Motto „Aperitivo starts at four“ dürfen hier ab 16 Uhr (am Sonntag sogar schon ab 14 Uhr) leckere Drinks und dazu herzhafte Happen genossen werden. Mehr dazu hier.

Doch wie ist es eigentlich um die Aperitif-Kultur in Deutschland bestellt – jenseits kelchgroßer Gläser mit süßlichem Spritz und Co.? Ist es vorstellbar, dass auch hierzulande bald am späten Nachmittag oder frühen Abend Gäste appetitanregende Drinks und kleine Happen bestellen, um den Tag gemütlich und gesellig ausklingen zu lassen?

nomyblog wollte es genauer wissen und lud am 23. Oktober zu einer kleinen Diskussionsveranstaltung ins „Caffè Torino“ ein. Freundlicherweise hatte sich Christoph Klotter bereit erklärt, mit uns über dieses Thema zu sprechen. Er betreibt nicht nur zusammen mit seiner Partnerin das „Diderot“, sondern ist auch Professor an der Hochschule Fulda, Ernährungsexperte und Psychologe. Kurz: der ideale Gesprächspartner für dieses Genussthema, über das wir mit rund 25 Gästen – Gastronomen, Journalisten, Foodbloggern – begleitet von gutem Essen und Trinken sprachen.

apertivotalk1 690x460 - wein, spirituosen, getraenke, events Aperitif-Kultur in Deutschland? Ein gastrosophisches Gespräch im Caffè Torino Berlin

Essen, Trinken, Diskutieren beim „Aperitivo-Talk“ im „Caffè Torino“

„Wir importieren permanent Träume“

Was sagt der Ernährungsexperte: Gibt es eine Chance für eine (nachhaltige) Aperitif-Kultur in Deutschland? „Wir importieren permanent Träume aus fernen Ländern – Sonne, Strand, Meer – und genauso importieren wir eine andere Esskultur. Essen wir ein Croissant, denken wir an savoir-vivre und an Frankreich“, so Klotter. Italiens Esskultur stehe für wenige, gute Produkte, die der im Vergleich zu Mitteleuropa karge Mittelmeerraum hergebe: Weizen, Olivenöl, Wein. Einfache Zubereitung, großer Genuss.

Der Aperitivo, als nach Deutschland geholter italienischer Traum, könne eine neue Trennlinie schaffen zwischen Freizeit und Arbeit, findet Klotter. Zumal es in Deutschland, ein Erbe der protestantischen Ethik, fast immer nur um Letzteres, das Arbeiten gehe, anders als in katholisch geprägten Ländern wie Spanien oder eben Italien: „Der Aperitivo könnte eine Zäsur bilden: Ab jetzt genießen wir gemeinsam und erfreuen uns am Leben.“ Dolce vita in Germania.

„Es gibt immer eine Adaptierung“

Schaut man sich an, wie sich die italienische Esskultur bei uns verbreitet hat – die ersten italienischen Restaurants eröffneten bereits vor 100 Jahren und mit der Ankunft der so genannten „Gastarbeiter“ ab den 1950ern setzte eine regelrechte Eröffnungswelle italienischer Gastronomien ein –, so stellt man fest: Sie ging einher mit einer „Domestizierung“. Die hierzulande beliebte Form der Pizza, mit bis zu einem halben Dutzend Belägen üppig bestückt, ist in ihrer Heimat Neapel ebenso unbekannt wie eine „Spaghetti Bolognese“ in Bologna. Es sind „eingedeutschte“ Speisen.

Der Experte erklärt: „Kulturen sind änderungsresistent. In jeder Kultur gibt es immer eine Adaptierung.“ Auch Spätzle, so Klotter, kommen ursprünglich aus Neapel, die Schwaben machten etwas Eigenes draus. Umgekehrt seien es die ersten deutschen Touristen gewesen, die mit dem VW Käfer an die Adriastrände Italiens fuhren, die den Italienern das Baden nahe gebracht haben – vorher sei kaum jemand aus Spaß an der Freude ins Wasser gegangen.“

apertivotalk3 690x460 - wein, spirituosen, getraenke, events Aperitif-Kultur in Deutschland? Ein gastrosophisches Gespräch im Caffè Torino Berlin

Christoph Klotter (Diderot) und Jan-Peter Wulf (nomyblog)

Integrationsleistungen einer Kultur, um darauf zurückzukommen, müssen vorhanden sein, damit etwas Neues, Fremdes, Unbekanntes seinen Platz finden kann. Heruntergebrochen auf den Aperitivo bedeutet das, so Klotter: „Wir machen jetzt auf ‘italienisch’ wird nicht reichen. Wir müssen uns auf Basis unserer eigenen kulturellen Tradition öffnen.“ Denken wir an die eigene kulturelle Tradition, bezogen auf Getränke, was kommt dann in den Sinn? Na klar: Bier. Wenn eine Aperitif-Kultur – oder wie auch immer es letztlich genannt werden mag – nördlich der Alpen Fuß fassen soll, dann gehört das Bier ebenso auf die Aperitivo-Karte wie ein Negroni, so der Einwurf eines Gastes der Diskussionsrunde, der als Bartender in einem Berliner Bar-Restaurant arbeitet.

Und anders als das „Feierabendbierchen“, das meist im privaten Raum getrunken wird und den Tag gefühlt „abschließt“, ist der Aperitif, es steckt schon im Wort drin, eine „Öffnung“: Es beginnt nach dem Arbeiten noch mal etwas ganz Neues. Zeit für Gesellschaft, für gute Gespräche, für gutes Essen und Trinken. Klotter: „Aperitif-Kultur ist eine soziale Inszenierung. Dazu gehört, dass ich mich unauffällig schick mache und versuche, mich gut darzustellen.“

Schlechtes Wetter? Nicht so schlimm, …

Was den Italienern die Piazza, ist den Deutschen die Fußgängerzone. „Sie steht für den Wunsch nach urbanem Leben und ist auch dem Südeuropäischen entlehnt“, weiß Christoph Klotter. „Das Original steht in Florenz, mit vielen kleinen Geschäften.“ Dort allerdings ist das Wetter – meistens jedenfalls – besser als bei uns. Und das lässt sich, leider, nicht importieren. Ein allzu einschränkender Faktor sei das aber nicht, findet Klotter, denn schließlich werde der Aperitif auch im nicht immer warmen New York zelebriert (die Italiener haben sie mit nach Übersee gebracht). Und denken wir an Italien, genauer an Norditalien (zum Beispiel an Turin), so scheint auch dort nicht das ganze Jahr die Sonne, ist es nicht das ganze Jahr herrlich warm.

aperitivotime 690x460 - wein, spirituosen, getraenke, events Aperitif-Kultur in Deutschland? Ein gastrosophisches Gespräch im Caffè Torino Berlin

Zeit für Geselligkeit: Aperitivo Time

caffe torino drink 690x460 - wein, spirituosen, getraenke, events Aperitif-Kultur in Deutschland? Ein gastrosophisches Gespräch im Caffè Torino Berlin

Aperitivo-Drinks im „Caffè Torino“ gibt es noch bis zum 6. November

… denn wichtiger ist die Bereitschaft, sich Zeit zu nehmen

Wichtigste Faktoren für eine Aperitif-Kultur sind die Bereitschaft, sich erstens für dieses Neue zu öffnen und sich zweitens Zeit dafür zu nehmen. Es muss ja nicht schon um 16 Uhr sein. Das sei, so Christoph Klotter, „völlig undenkbar“ in Deutschland, aber vielleicht ja ab 18 Uhr? Berlin, so fügte er hinzu und erntete dafür ein anerkennendes Schmunzeln der Gäste, sei in Deutschland ein „Vorreiter in der Entspannungskultur“.

Insofern scheint sich das „Caffè Torino“ die richtige Stadt für seine Pionierarbeit in Sachen Aperitif-Kultur ausgesucht zu haben.

Nachtrag: Im „Diderot“ gibt es auch nach Auszug der Popup-Vermoutheria „Caffè Torino“ leckere Aperitivo-Drinks mit Martini. Immer von Donnerstag bis Sonntag – und, wie Herr Klotter es empfohlen hat, zur „deutschen Feierabendzeit“ ab 18 Uhr.

Weiterlesen:

KOMMENTIEREN

* Durch die Verwendung dieses Formulars stimmen Sie der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website zu.