Wir sitzen in einem Kleinbus am Strand von Ardlussa, mitten in der Wildnis der schottischen Insel Jura, die zu den Inneren Hebriden zählt. Es ist sonnig draußen, doch kühl und windig. Der freundliche Guide unserer Rundfahrt über die Insel (die keine Rundfahrt ist, es gibt nur eine Nord-Süd-Straße) hat uns Sandwiches mitgebracht und O-Saft im Trinkpäckchen. Klassenausflugs-Atmosphäre. Nun ja, eine Englisch-Leistungskurs-Studienfahrt wäre hier richtig: Hier entstand vor fast 70 Jahren eine der großen literarischen Dystopien, des 20. Jahrhunderts, der berühmte Roman „1984“ von George Orwell. Er war kurz zuvor mit „Animal Farm“ weltbekannt geworden und zog sich zum Schreiben des neuen Buchs nach Jura zurück.
Orwell war hier praktisch allein; die heute rund 200 Einwohner zählende Insel war zur damaligen Zeit menschenleer – nachdem die einzige örtliche Whisky-Destillerie Anfang des 20. Jahrhunderts geschlossen wurde, zogen die Bewohner weg. Orwell schrieb unter widrigsten Umständen, gepeinigt und geschwächt von einer massiven Tuberkulose, die er sich nach einem Bootsunglück im berüchtigten Whirlpool „Corryvreckan“ vor der Insel, bei dem er ins auch im Sommer eiskalte Wasser fiel, eingefangen hatte. Ein Schreiben gegen die Zeit. Gegen seine ablaufende Lebenszeit: Kurz nach dem Erscheinen des Buchs, das ursprünglich „The Last Man in Europe“ heißen sollte, verstarb der große Literat, er hatte sich erst nach Fertigstellung richtig behandeln lassen. Zu spät.
Die besagte Whisky-Destillerie der Insel Jura sollte in den frühen 1960er Jahren auf der Insel wiedereröffnen. Zwei Einheimische und ein finanzstarker Brauer brachten damit einige Arbeitsplätze und immer mehr Menschen zurück auf das Eiland. Orwell und seinem Masterpiece hat man eine Sonderedition gewidmet: „1984“, zugleich Jahr der Abfüllung, ist seit letztem Jahr im Handel, eine auf 1.984 Flaschen limitierte Rarität. Auch die im Jahr 2013 erschienene Edition „Turas Mara“ trägt solch einen Bezug zur Insel in ihrem Namen: „Turas Mara“, das heißt „lange Reise“ und erinnert an die vielen Insulaner im 18. und 19. Jahrhundert, die das harte Leben auf der kargen, mit im Gegensatz zum Nachbar Islay nicht sehr fruchtbaren Böden gesegneten Insel gegen ein neues, unbekanntes in Amerika oder Australien eintauschten. Oft ließen dabei die Jungen die Alten in der Familie zurück mit der traurigen Gewissheit, sie nie wieder zu sehen. Ob die Kunden dieses „travel retail only“-Produkts, das es nur im Duty-Free-Bereich der Flughäfen gibt, diesen Hintergrund wissen, wenn sie eine Flasche mit ins Handgepäck nehmen?
Ich bin hier, an diesem doch recht entlegenen Ort, weil die Destillerie von Jura und ihr heutiger Besitzer, das Unternehmen „Whyte & Mackay“ mich zum „Tastival“ nach Jura eingeladen haben, dem alljährlichen Event in der Destillerie direkt am Strand von Craighouse, dem einzigen Ort der Insel. Sonst ist es ein winziges, verschlafenes Nest, in dem alles Community-basiert am Laufen gehalten wird: den neuen Inseldoktor warb man per eigens aufgesetzter Webseite selbst an, weil der NHS (national health service) keinen Nachfolger stellen konnte. Die Tankstelle unten am Fährhafen betreibt man ehrenamtlich. Den einzigen Shop hat man gemeinschaftlich vor der Schließung gerettet, renoviert (dabei fielen drei der vier Wände um) und neue Mitarbeiter eingestellt.
Heute ist in Craighouse viel los. Viele Whiskyfans sind in diesen Tagen angereist, um die Destillerien der berühmten „Islay Whiskys“ zu besuchen. Jedes Haus auf Islay hat seine Türen geöffnet, und einige Besucher hat die kleine Fähre auch zum „Tastival“ nach Jura gebracht. Holländer, die mit dem Caravan angereist sind und – wirklich – neben diesem ihren Frühstückstisch decken, bärtige schwedische Motorradfahrer-Rocker, ein asiatisches Pärchen in stilechten Gummistiefeln mit Clan-Muster drauf und einem Koffer voller edler Editionen, einen professionellen „Vintage-Whisky-Hunter“ aus Boston. Stolz zeigt er mir ein Bild einer Flasche, die John F. Kennedy seinem Nachbarn zum Geburtstag geschenkt haben soll. „Happy Birthday from Jack“ (seinem Spitznamen) steht auf dem Deckel.
Wir probieren viele Jura-Whiskys an diesem Tag. Natürlich auch die neue Sonderedition, die anlässlich des Events releast wird: „Tastival 2015“ heißt sie schlicht und ergreifend. Es ist ein 1997 destillierter, also 18 Jahre alter Whisky mit Noten von Johannisbeeren, der sein „cask finish“ in Rosé-Schaumweinfässern aus dem Loiretal erhielt. Sehr ansprechend. Zum Tasting gibt es überraschender Weise auch Bier. Nicht irgendeines, sondern eine korrespondierende „Tastival“-Edition, die in der Drygate-Brauerei in Glasgow eigens für das Event gebraut wurde. „Man hat mir ungefähr so viel zum Probieren geschickt“, schmunzelt der junge Brauer Ed Evans und quetscht seine Finger zusammen. Mit der Mini-Probe hat er ein komplementäres Produkt entwickelt: Citra-Hopfen für leichte Säure im „Tastival“-Bier als Kontrapunkt zu den dunklen Beeren des „Tastival“-Whiskys. 10 Prozent Hafer für cremiges Mundgefühl als Kontrapunkt zu dessen trockenem Nachklang.
Fünf Warehouses gibt es in Jura, rund 4,2 Millionen Liter Whisky reifen in Dunkelheit heran. Die Herren über die Fässer heißen Willie (Cochrane, Manager der Destillerie) und Willie (Tait, Master Destiller). Zwei nette, knorrige ältere Herren, die uns durch die Destille führen. Als ich Herrn Tait darauf anspreche, wie spannend ich die Idee mit dem eigens zum Whisky gebrauten Bier finde, winkt er grinsend ab: „Ach, die alten Schotten haben doch immer schon Bier und Whisky im Pub zusammen getrunken. Was soll denn daran besonders sein?“. Innovativ zu sein, ohne seine Identität einzubüßen, das habe man hier immer schon beherzigt. So reiste man vor einigen Jahren mit sieben Samples nach New York; vor Ort sollten Bartender ihren Favoriten küren. Daraus wurde dann die Jura-Edition „Brooklyn“. „It´s nice to see different things as long as you don´t go too far“, erklärt Willie Cochrane, wie sein Kollege spricht er mit starkem schottischem Akzent. Da muss man genau hinhören. „That´s what makes Jura. And if you don´t like it, we don´t give a shit!“
Einen herzlichen, rauen Charme haben sie hier oben. Der mir sehr zusagt, ich kenne und schätze ihn noch gut aus meiner Studienzeit in Glasgow. Die zweitägige private Verlängerung der Reise nutze ich, um diese spannende, völlig zu Unrecht im Schatten von Edinburgh stehende Kulturstadt wieder zu besuchen, alte Orte und auch oben genannte „Drygate“-Brauerei. Ihr Konzept ist einzigartig: Vor einem Jahr wurde sie als Joint-Venture zwischen dem Großbrauer „C&C Group“ (braut u.a. das Glasgower Haus- und Hofbier „Tennent´s Lager“) und dem schottischen Craft-Bier-Primus „Williams Bros Brewing“ eröffnet. „Drygate“ ist Brauerei, Bier-Shop, Gastronomie und Biergarten in einem.
Vor Ort treffe ich Ed Evans wieder, er zeigt mir sein Reich. Im Brauhaus ist gerade ein neuer Sud fertig geworden, beim Saubermachen läuft HipHop in amtlicher Lautstärke. Die Tanks sind mit cooler Streetart verziert. Das stelle man sich mal im Sauerland, in der Eifel oder im Fränkischen vor! Vis-à-vis sitzen viele Restaurant-Gäste und schauen beim Brauprozess zu, während sie deftiges britisches Pub Food zum fassfrischen Bier essen. Und Klein- und Kleinstbrauer können sich hier bedarfsweise einmieten, um ihr Craft Bier zu brauen. So kann es also aussehen, wenn sich Große und Kleine zusammentun.
Viel frischen Wind nehme ich aus Schottland mit. Echten Wind und Wind im übertragenen Sinne: Denn ich habe gesehen: Hier tut man nicht nur viel, um seine Tradition zu bewahren, sondern auch, um neue Wege zu gehen. So, dass es kein Widerspruch sein muss. Das täte der hiesigen Getränkewelt an der einen oder anderen Stelle auch gut.
Vielen Dank an Whyte & Mackay und Borco Markenimport für die Einladung nach Jura.