Aperitifkultur in Deutschland: eine Bestandsaufnahme

von Jan-Peter Wulf
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Negroni und Co.: Aperitif-Drinks werden auch in Deutschland immer beliebter und bieten der Gastronomie neues Umsatzpotential. Foto: Martini 

Beim Aperitif denkt man an den Süden, laue Abende, an Piazze und Strandpromenaden. Doch Pre-Dinner-Drinks wie der „Aperol Spritz“ und der „Hugo“ haben auch in unseren kühlen Breiten den Weg für gemischte Getränke am frühen Abend geebnet. Und erste Gastronomien machen den Aperitif zum Baustein ihres Konzepts.

„Es geht um Sehnsucht, um Wärme. Gerade in einer oft nasskalten Stadt wie unserer“, findet der Hamburger Koral Elci, der zusammen mit seinem Bruder Onur vor gut einem Jahr die „Focacceria Bonassola“ im Stadtteil Ottensen eröffnet hat. Die ist wahrlich ein Sehnsuchtsort: Es gibt hausgemachte Focacce, ganz wie im Lieblingsferienort der Elcis, Bonassola in Ligurien, italienische Feinkost – und typische Aperitif-Produkte vom Amaro über den Gin bis zum Wermut. Rund um Letzteres hat man die „Aperitivo Time“ installiert, täglich ab dem Nachmittag bis 20 Uhr: vom alkoholfreien Sanbitter über Low-Alcohol-Drinks wie den Cynar Tonic mit feinen Bitternoten von Artischocke und Chinin bis zum kräftigen Italo-Klassiker Negroni werden über ein Dutzend Positionen dargeboten. Dazu reicht man herzhafte Focacce-Happen oder Schälchen mit Oliven – ganz wie in Italien, wo es zum appetitanregenden Getränk am frühen Abend immer auch eine Kleinigkeit zu essen gibt. „Das ist eine Geste von uns: Wer einen Drink bestellt, soll auch etwas zu essen bekommen“, so Elci.

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In der „Foccaceria Bonassola“ gibt es eine Vielzahl von Aperitivo-Getränken. Auch für zu Hause.

Die Darbietung solch salzig-herzhafter Snacks oberhalb der Erdnuss-Levels hat ganz nebenbei den Effekt, dass Gäste, die zum einstimmenden Getränk plus Häppchen kommen, gleich zum „richtigen“ Abendessen bleiben. Da fungiert der Aperitivo betriebswirtschaftlich betrachtet als Profit Center (eigene Erlösquelle) und als Umsatzförderer fürs Hauptgeschäft, das Dinner. Clever. „Man kann die Gäste gut damit anködern und das Weiterbestellen fördern“, so Elci. Es habe allerdings schon ein wenig gedauert, bis diese Rechnung aufging: Mit vielen italienischen Bekannten habe man gesprochen: Würde das Thema Aperitivo in der Hansestadt funktionieren können? Das Feedback, berichtet der Gastronom und „Kitchen Guerillero“, sei eher skeptisch gewesen.

Aber: Versucht macht klug, und vor allem kommt es auf die Exekution an. Wer sich am frühen Abend in oder – lässt das Wetter es zu – vor der schön gestalteten Souterrain-Location niederlässt, der kann schon ein bisschen in Urlaubsstimmung kommen, die ligurische Küste rückt ein Stückchen näher an die Elbe. „Ich würde mich freuen, wenn es mehr Aperitifkultur in Deutschland gäbe. Die Leute trinken auch im Winter Caipirinhas, sie lieben Italien – das sind keine schlechten Voraussetzungen. Wichtig ist, es mit Musik zu kombinieren“, findet Elci. Deswegen legen auch DJs bei der „Aperitivo Time“ auf – und das wiederum ist ein in Deutschland gastronomisch gelerntes Format. Man nennt es „After Work“: Schluss mit dem Tagwerk, jetzt beginnt die Freizeit. Es darf genossen werden, es darf ein bisschen ausgelassen zugehen.

Früher öffnen können dank Food-Begleitung

Von Hamburg nach Frankfurt, in die After-Work-Hauptstadt Deutschlands. Seit den 1990er-Jahren florieren Eventformate, bei denen direkt nach der Arbeit gegessen, getrunken, getanzt und geflirtet werden kann, in Mainhattan, ganz besonders unter der Woche. Das ist kein Zufall: Frankfurt ist eine Pendlerstadt, viele Berufstätige wohnen im „Speckgürtel“ oder leben ganz woanders und fahren oder fliegen übers Wochenende weg – ausgegangen wird ergo häufiger an Wochentagen und gerne direkt nach Dienstschluss, ähnlich wie zum Beispiel in London.

Für die neue Gastronomie „Le Vingtneuf“ in der Elbestraße im florierenden Bahnhofsviertel ist genau da der Ansatzpunkt: Man öffnet für eine Bar verhältnismäßig früh, bereits um 17 Uhr, und schließt auch früh wieder, nämlich schon vor Mitternacht. Nur am Wochenende geht es bis zwei Uhr. Das Interieur ist heller als eine typische Bar, hochprozentige Cocktails gibt es nicht, dafür Weine, Wermut und Aperitivo-Klassiker. Und dazu auch hier: Food. Charcuterie, Käseauswahl, selbst eingelegte Oliven, gegrillte Panini. „Einfach, aber anständig“, erklärt Co-Betreiber Radu Rosetti, der einst das Ex-„King Kamehameha“ mitgegründet hat und mit seinem „Le Vintneuf“-Kompagnon Matthieu Purrey auch das „Klein und Main“ im Bahnhofsviertel betreibt. „Ohne Essen würde unser Konzept nicht funktionieren, weil die Gäste ganz einfach später kommen würden“, erklärt er.

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Im „Le Vingtneuf“ gibt es rund 60 Sorten Wermut. Foto: Thorsten Weigl

Während das Restaurant der Gebrüder Elci das Thema Aperitif einsetzt, um auch den Food-Umsatz zu fördern, dient es hier als galantes Mittel, mit dem sich das „Le Vingtneuf“ von den umliegenden Bars – und derer gibt es im Viertel immer mehr – zeitlich absetzt. Es klappt: „Sogar am Montag und Dienstag ist es bei uns schon recht früh voll“, berichtet Rosetti. Und vor allem die zahlreichen Wermuts, 60 Positionen, haben es den Gästen angetan. Rosetti sieht darin eine Renaissance: „Das war früher mal das Getränk in Europa.“ Er vergleicht es mit dem, was wir beim Craft-Bier erleben: Nach Jahrzehnten industrieller Gleichförmigkeit – der Konsument verbindet mit Wermut zwei, drei große Marken und deren Produkte – wird nun die Vielfalt wieder entdeckt.

Und noch eine Parallele gebe es: Einfach nur viel anzubieten, das reiche nicht. Gäste wollen die Produkte verstehen können und plausible Empfehlungen erhalten, beim handwerklichen Bier wie beim handwerklichen „fortified wine“. „Kompetenz macht das Konzept glaubwürdig“, so Radusetti. Für Gäste, die besonders tief in die Welt des Aperitif-Klassikers Wermut eintauchen wollen, bietet das „Le Vingtneuf“ regelmäßig Wermut-Tastings an.

Der Süden kommt in den Norden

„Mediterranisierung“ nennen Soziologen das Phänomen, dass die Deutschen es auch hierzulande immer südländischer mögen – großzügige Gastro-Außenbereiche in Innenstadtlagen, die selbst in kühlen Tagen dank Decken und Heizpilzen gut frequentiert werden, Beach-Clubs (die gibt es in diesem Ausmaß nur zwischen Flensburg und Oberammergau!), hochwertige Outdoor-Möbel für Terrasse und Balkon – und auch das Sich-Gönnen eines frühen alkoholischen Getränks wie die Erfolgs-Drinks „Aperol Spritz“ (der aus dem Veneto stammt) und des „Hugo“ (geboren in Südtirol) stellen unter Beweis: Die Sehnsucht nach dem Süden, von der Koral Elci spricht, sie ist groß.

Die Spirituosen- und die Foodbranche haben den Trend erkannt und forciert das Aperitif-Thema mit neuen Drink- und Foodpairing-Ideen. Aber auch mit gastronomischen Popup-Formaten wie der „Swiss Apéro Bar“, die sich nach ihrem Debüt 2015 in Stuttgart im vergangenen Herbst in der (mittlerweile ehemaligen) „Registratur“ in München niederließ – promotet wurden Schweizer Feinkostspezialitäten wie Walliser Trockenfleisch oder Salsiz zu Weinen und Low-Alcohol-Drinks. Fast zeitgleich hatte das „Caffè Torino“ in Berlin seine Pforten im Café-Bistro „Diderot“ in Berlin geöffnet, ein globales Aperitif-Format von Martini, mit dem die Premium-Wermuts „Martini Riserva Speciale Rubino“ und „Martini Riserva Speciale Ambrato“ in den deutschen Markt eingeführt wurden – gemixt in „getwisteten“ Capronis, Americanos, Negronis und Sbagliatos und serviert auf dem Holztray nebst herzhafter Feinkost-Auswahl vom Parmaschinken bis zur Sardellen-Bruschetta.

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Popup „Caffe Torino“: Italienische Marke inszeniert sich in einer Berliner Gastronomie zwecks Förderung der Aperitifkultur. Foto: Martini

Es ist längst nicht mehr die einzige Berliner Location, die Drinks am frühen Abend offeriert – neben italienischen Restaurants wie dem „Barettino“ oder dem „La Pecora Nera“ zum Beispiel auch das Design-Hotel „Das Stue“, das seit einigen Monaten einen in den Abend einstimmenden „Vermouth Moment“ anbietet.

„Diderot“-Betreiber Christoph Klotter, der in seiner Gastronomie auch Events rund um das Thema Foodkultur anbietet und zugleich Ernährungsexperte und Psychologe mit Lehrstuhl an der Hochschule Fulda ist, hält eine kulturelle Adaptierung des Aperitifs für notwendig, damit er diesseits der Alpen auch in nichtitalienischen Konzepten Fuß fassen kann: „Wir machen jetzt auf ‘italienisch’ wird nicht reichen. Wir müssen uns auf Basis unserer eigenen kulturellen Tradition öffnen.“ (Mehr dazu in der Zusammenfassung des Talks, den ich mit ihm dazu geführt habe).

Heißt: Man sollte bekannte und gelernte Produkte einbringen. Auf eine „domestizierte“ Aperitifkarte gehören folglich auch das Glas Wein aus heimischen Anbaugebieten, das Feierabend-Bier oder ein gemischtes Low-Alcohol-Getränk mit hiesigen Produkten. Und derer gibt es gar nicht so wenige, vom bayerischen Amaro „Mondino“ über den Berlin-Schwarzwald-Wermut „Belsazar“ bis zur großen Auswahl an Winzersekten. Und was das Food angeht: Herzhafte Häppchen mit heimischen Spezialitäten – früher nannte man das mal „deutsche Tapas“, werden in Zeiten, in denen gemeinsam bestellte und genossene Kleinportionen ebenso im Trend sind wie das Abendbrot sein Comeback erlebt, doch sicher Zuspruch finden können. Aperitif-Kultur in Deutschland? Aber ja. 

Buchtipp zum Thema: „Apero und Co. – Schnelle Drinks und Snacks für den Feierabend“, ein Koch- und Cocktailbuch von Anna Cavelius und Cornelia Schinharl, 144 Seiten, 14,99 EUR, erschienen 2016 im ZS Verlag.

Editierte Version des zuerst in fizzz 4/2017 erschienenen Beitrags.

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