Mittlerweile träumen ja viele Gastronomen von einem Platz an der Potsdamer Straße, Kretschmer ist schon seit 2011 da. Mit Les Climats gehört ihm gleich ums Eck eine auf Burgunder spezialisierte Weinhandlung. Ihr Ruf war es auch, der ihm zur Lokalität verhalf, in der seit Oktober 2016 die Brassiere Lumières zu finden ist. Denn der Hausinhaber kannte die Weinbar.
Will Kretschmer nicht vielleicht ein Wettbüro ablösen und an der gefragten Adresse ein Restaurant eröffnen? Die Räumlichkeiten mit ihren hohen Wänden und der Stuckverzierung verlangten quasi danach. „Mit dieser Frage rannte er offene Türen ein, das hat mich wirklich interessiert,“ erinnert sich Kretschmer an den schönen Zufall.
Nachbarn und Gebäude schonen
Nun schwingt bei all den Neueröffnungen in der Nachbarschaft ein gemeinsamer Hintergedanke mit: „Es geht immer um die Entwicklung des Quartiers. Hausbesitzer haben natürlich Interesse daran, das Ganze hier etwas anzuheben.“ Anzuheben? „In der Pohlstraße waren die Vermieter auch froh, dass nach Auszug des Glücksspiel-Lokals etwas Ruhe einkehrte. Ich verfolge eher ein Konzept, das die Nachbarn und das Gebäude schont, was zugegebenermaßen in der Weinhandlung besser klappt als bei der Brasserie“, gibt Kretschmer zu bedenken.
Dennoch ist es ihm wichtig, auf die Balance zu achten. „Der Reiz der Gegend ist gerade die Heterogenität. Hier konnte man im Wesentlichen immer schon die einfachen Dinge tun: Döner essen, Kaffee trinken, ein bisschen wetten und das Rotlicht war auch nie weit.“ Rollt man die aktuelle Situation an der Potsdamer Straße zur Abwechslung von hinten auf, gibt es heute also eine Unbalance in die andere Richtung. „Jetzt wäre die große Kunst, alles so auszutarieren, dass es für alle Belange etwas gibt“, so Kretschmer.
Als Vorreiter besagter Bewegung gelten die Galerien, 2015 kam der Flagship-Store eines internationalen Modelabels hinzu und danach immer mehr Restaurants und Cafés. Welche Bevölkerungsschicht(en) all die baulichen Aktivitäten nach sich ziehen werden, wird sich laut Kretschmer noch herauskristallisieren. Seine Klientel ist zum Teil schon ansässig: „Die finden das Konzept gut, sind aus der Gegend aber trotzdem gewohnt, dass irgendwann mal alles viel billiger war.“ An der Stelle kommen Touristen ins Spiel und die treffen an diesem Montag verlässlich ein.
Schlicht und anständig statt Drang zum Fine Dining
Was lockt den Gast von nah und fern denn nun wirklich nach Tiergarten? Definitiv sehr gute, junge und ambitionierte Köche, die Kretschmer von Anfang an in seiner Küche stehen hatte: „Die drängten eigentlich hin zum Fine-Dining-Konzept auf Serax-Geschirr, aber das wollte ich nicht.“ Stattdessen glänzt die Brasserie mit schlichten, weißen Tellern und richtigen Stoffservietten auf anständigem Holz. „Auf Tischdecken kann ich verzichten, die kommunizieren dann schon wieder so etwas wie Vorsicht.“ Sein Team von einem Gericht wie Bœuf Bourguignon auf der Karte zu überzeugen, das nicht nur billiger und massentauglicher ist, sondern in der Tat auch viel bestellt wird, war für Kretschmer kein leichtes Unterfangen.
Überhaupt ist er um eine Preisstruktur bemüht, die nicht nur nach oben tendiert. Mit ausgewählten Hauptgerichten, wo auch das Ratatouille dazugehört, will er um die 15 Euro oder darunter bleiben können. Und was gibt’s sonst so für das brasserie-karge Berlin? „Wir haben zwar klassische französische Brasserie-Gerichte auf der Karte, aber wir machen etwas damit und schrauben das Ganze ein bisschen höher,“ lässt Kretschmer anklingen.
Etwas Klassisches, neu interpretiert – klingt herausfordernd: „Man muss einerseits Erwartungen erfüllen, mit denen Gäste aus Frankreich oder dem letzten Urlaub dort kommen und gleichzeitig etwas Besonderes anbieten.“ À propos: Das Tatar der Brasserie Lumières genießt einen guten Ruf. Wir probieren dennoch erstmal die Zwiebelsuppe oder besser gesagt eine klare Variation der Soupe à l’oignon, zu der statt Brot warmes Brioche mit Gruyère serviert wird.
Ravensburg, Montélimar
Spätestens dann stellt sich uns die Frage, woher beim Chef denn überhaupt die Liebe zu Frankreich kommt: Wurzeln hat er keine, aber das Glück, dass seine Heimat Ravensburg einst Montélimar als Partnerstadt zugewiesen bekam und es ihn in der Kindheit des Öfteren an den Rand der Provence verschlagen hat. Jahre später fuhr er auf der Heimreise aus den Hochsavoyen extra durch das Burgund, um zu schauen, ob man den sonst so teuren Wein der Region direkt bei den Winzern etwas billiger bekommen konnte: „So ging’s los, das war der Knackpunkt.“
Trotz großer Liebe zum Wein verzichtet Kretschmer in seiner Brasserie darauf, das Menü nach ihm auszurichten: „Der Wein ist relativ gleichwertig, er soll mitmachen. Bisher habe ich mich auch immer gescheut, an dieser Stelle zu posh zu sein. Mir ist eine gewisse Bodenhaftung wichtig und beim Wein kann man ziemlich überdrehen“, Kretschmer denkt an Weinbars, die auf Michelin-Sterne schielen. Ein großer Vorteil bleibt: „Als Händler bin ich in der Lage, immer wieder Dinge zu entdecken, die preisleistungsmäßig ganz erschwinglich sind und die kann ich dann hierher weitergeben.“
Es wird Zeit für den Hauptgang. Wir entscheiden uns an diesem Abend gegen Fleisch und auch gegen Fisch, stattdessen auf Empfehlung des Hauses für Gemüse: Blumenkohl, Fenchel, Paprika und Rauke für 16,50 Euro. Gespielt wird bei der Konsistenz – heißt, der Blumenkohl etwa kommt im Ganzen, kalt als Salat und als Püree. Dazu gibt’s ein Glas Grenache Gris aus der Cité de la Carcassonne, dessen Reben im Jahr 1927 gepflanzt wurden: sehr mineralisch und sehr trocken, gleichzeitig ganz fein und relativ mild.
Und auch beim Dessert wird’s nochmal richtig spannend. Das Mille-feuille wird hier nämlich mit ein paar wenigen krokantartigen Blättern zubereitet. Dazwischen Birne, Schokocrème, ein paar Beeren und dazu Vanilleeis – sowie ein Glas Birnenschaumwein, ausnahmsweise nicht aus Frankreich, sondern „von einem ziemlich abgefahrenen Bauern aus Hohenlohe“.
„Es ist tatsächlich für alle gedacht“
Aufgetischt wird das alles übrigens in einem Restaurant, wo man sich dank warmer Atmosphäre sehr schnell, sehr wohl und gut aufgehoben fühlen kann. „Das soll auch so sein, es ist tatsächlich für alle gedacht“, kann Kretschmer guten Gewissens bestätigen, während unser Blick vom jungen Künstlerpaar zu einem alleine dinierenden Mann im Anzug, einer amerikanischen Familie und einem Ehepaar in hohem Alter bis zur Mutter fällt, die von ihrem Sohn ausgeführt wird. „Die einen suchen das Choucroute oder Steak Frites. Andere kommen rein und freuen sich darüber, dass wir im Rahmen der Abendkarte auch mal experimentieren können.“
Was bei Kretschmer tagein, tagaus über den Tresen geht, behält er mit dem iPad-Kassensystem von orderbird im Auge: „Es ist krisenfest und ein gutes Kontrollinstrument. Ich kann mich von außerhalb einwählen und in Echtzeit zuschauen, was an Waren verbraucht wird oder wie der Umsatz ist.“ Die Kartenzahlfunktion kommt unter anderem den vielen Touristen der Gegend entgegen, der Gastronom selbst gleicht mit orderbird auch Stundenzettel ab oder überwacht Bestellvorgänge. Seiner Meinung nach die größte Stärke des Systems? „Das Buchhalterische: Ich kann einfach am Monatsende alles ans Steuerbüro schicken und die Sache ist durch.“
Brasserie Lumières
Potsdamer Straße 102 10785 Berlin
Brassiere Lumières
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