Berliner Meisterköche 2023: Julia Leitner und René Frank, Coda Dessert Dining

Eine Reise vom nischigen Casualkonzept zum innovativen Gourmetrestaurant

von Jan-Peter Wulf
PXL 20230825 1853322482 - interviews-portraits, konzepte, gastronomie, food-nomyblog Berliner Meisterköche 2023: Julia Leitner und René Frank, Coda Dessert Dining

Alle Fotos außer Portrait: Redaktion

Das Konzept des Restaurants „Coda“ in Neukölln hat sich über die Jahre stark weiterentwickelt – very casual zu Beginn, very fine heute mit zwei Sternen. Geblieben ist der Antrieb, das Thema Dessert komplett neu zu denken und vom Nachtisch zur Hauptfigur zu machen. Zu Besuch bei den Berliner Meisterköch*innen des Jahres 2023, René Frank und Julia Leitner. 

Die „Abendleitung“ am Pass zwischen offener Küche und Gastraum sieht aus wie ein Mix aus analogem Trello, Brettspiel und Schreibtisch eines Raumplanungsbüros. Auf dem großen Blatt sind die Tische aufgelistet, es gibt Textmarker, eine Uhr, ein Telefon und Püppchen in verschiedenen Farben.

Dieses faszinierend aussehende, selbstentwickelte Bonsheet-System notiert und koordiniert im laufenden „Coda“-Betrieb alles: Ob die Gäste einen Aperitif vorab hatten, welcher Gang schon an welchen Tisch geschickt wurde, sogar ob jemand auf eine Kippe vor die Tür raus ist und ob der Pralinen-Trolley angerollt kommen darf. Ein pinkes Püppchen weist drauf hin, dass der Gast bzw. die Gästin Englisch spricht. Ein grünes, dass er/sie eine Jacke abgegeben hat. Dürfen wir ein Foto machen? Dürfen wir, sagt Küchenchefin Julia Leitner und berichtet lächelnd, dass auch viele Gastronomen gerne Bilder von ihrer Schnittstelle machen (und gerne machen dürfen).

coda berlin dessert dining photo claudia goedke portrait rene frank julia leitner 01 1 - interviews-portraits, konzepte, gastronomie, food-nomyblog Berliner Meisterköche 2023: Julia Leitner und René Frank, Coda Dessert Dining

Foto: Claudia Gödke

PXL 20230825 194814366 - interviews-portraits, konzepte, gastronomie, food-nomyblog Berliner Meisterköche 2023: Julia Leitner und René Frank, Coda Dessert Dining

Wenngleich das Restaurant auf den ersten Blick noch fast genauso aussieht wie zu Anfangszeiten – ein Spiel von Dunkelheit und effektvoller Lichtsetzung, wie man es aus vielen Projekten von ett la benn kennt (Coda-Mitbetreiber Oliver Bischoff ist auch Mitbetreiber des Gestaltungsbüros, das sich auf Gastronomie spezialisiert hat), so ist doch heute vieles anders als zu Beginn. Eine Reise wie dieses Restaurant haben nur sehr wenige gemacht: Vom sehr spitzen, fast etwas zu intellektuellen Konzept zu einem der innovativsten Fine-Dining-Restaurants des Landes, das mittlerweile zwei Michelinsterne trägt.

„Esst gerne schon vorher woanders was“ 

Ursprungsidee war, das Thema Dessert neu zu denken, die Nachspeise zur Hauptrolle zu machen. Dafür hatten sich Bischoff und René Frank, der als Pâtissier u.a. im legendären „La Vie“ in Osnabrück tätig war, zusammengetan. Erst bot man Speisen à la carte an, drei Gänge, fünf Gänge. „Es kamen aber auch Gäste, die nur einen Gang bestellt und den auch noch geteilt haben, andere haben drei und fünf Gänge kombiniert und acht Gänge draus gemacht“, erinnert sich Frank. Viele kamen „angegessen“ und spät, weil das Dessert-Ding eben so verstanden wurde und das „Coda“, wie es der Begriff aus der Musikwelt ja schon sagt, als Ausklang, Anhang, als ein Nach-Speise-Restaurant wahrgenommen wurde. „Wir haben zuerst ja auch gesagt: Esst gerne schon vorher woanders was“, so Frank.

Mit der Einführung eines Dinnermenüs kam 2019 der erste Michelinstern, zu dieser Zeit bot man im ersten Seating ein Sechsgangmenü an, im zweiten Seating ein offenes Dinner à la carte. Und nur ein Jahr nach Stern eins kam schon Stern zwei, Anfang 2020. Das war noch mal ein ganz anderer Aufschlag, erklärt der Betreiber. Doch statt eines Runs aufs Restaurant gab es einen Lockdown. Fürs „Coda“ sei er im Prinzip und abgesehen von allen Widrigkeiten, die er mit sich brachte, gut gewesen: Das Konzept konnte nun, da Zeit zum Durchpusten war,  ausgearbeitet werden. Ein Sommelier wurde eingestellt, die Weinkarte wurde überarbeitet, man forcierte das Thema Drinks und Service.

Trading-up

Was nach #restartgastro vorerst blieb, war das Zwei-Seating-Modell: Sieben Gänge im ersten, fünf im zweiten. Was sich mit dem zweiten Stern änderte, war die Gästeerwartung: mehr Champagner-Auswahl beispielsweise und ein ausgedehnteres Menü – so verlangten viele Gäste nun eine Praline hinterher. Whut? In einem Restaurant, das die Praline und mit ihr das Dessert doch eigentlich de- und rekonstruiert? Nun ja. Andererseits: Das „Coda“ mag von der Pâtisserie inspiriert sein, aber hat sich vom Reinsüßen dieser Welt schon lange, eigentlich schon immer, verabschiedet. Süß wird mit herzhaft, mit salzig, mit umami kombiniert.

Es wurde jedenfalls auf den Gästewunsch reagiert. Mit Trading-up: mehr Leistung, höherer Preis. Aus dem hippen Neuköllner Casual-Dining-Lokal war nun endgültig ein Sternerestaurant geworden, auch wenn dies ursprünglich nie der Plan gewesen sein mag.

PXL 20230825 1829084562 - interviews-portraits, konzepte, gastronomie, food-nomyblog Berliner Meisterköche 2023: Julia Leitner und René Frank, Coda Dessert Dining

Raclette-Waffel mit Kimchi und Joghurt

PXL 20230825 1819144122 - interviews-portraits, konzepte, gastronomie, food-nomyblog Berliner Meisterköche 2023: Julia Leitner und René Frank, Coda Dessert Dining

Kopfsalat mit Salzgurke und Frischkäse

PXL 20230825 175719771 - interviews-portraits, konzepte, gastronomie, food-nomyblog Berliner Meisterköche 2023: Julia Leitner und René Frank, Coda Dessert Dining

Gelbe Tomate mit Kichererbse und Zitrone

Nur noch ein Seating

Spätestens zu Beginn dieses Jahres aber, erklärt Frank, musste man erkennen: Mit zwei Seatings geht es nicht weiter, wenn man eine Dinner-Experience auf diesem Niveau bieten will. Wenn das erste um 18 Uhr beginnt und spätestens um 21 Uhr durch sein muss, ist das in dieser Kategorie vergleichsweise wenig Zeit. Es herrscht immer ein gewisser Druck in den Operations und bei den Gästen übrigens auch, geht es euch nicht auch so: Bei einem frühen Seating mit Ansage, bis wann man sitzen darf, wird man seinen inneren Countdown nie ganz los. Überdies erst um 21 mit dem Dinner starten ist für hiesige Gäste auch nicht gerade gewöhnlich.

So fiel die Entscheidung, es auf einen Durchgang zu reduzieren. 28 Gäste nimmt man maximal pro Abend an, 24 bis 25 sei die Idealbelegung, die man mit dem auf 16 Personen angewachsenen Team gut managen kann. Das Team arbeitet in zwei Schichten, in vorbereitender Frühschicht ca. zu sechst und in der Abendschicht ca. zu zehnt. Das Menü besteht jetzt aus insgesamt 16 Servings. Dazu kommen kleine, begleitende Drinks à 8 cl. Wein oder alkoholfreie Alternativen können sich die Gäste by the glass oder als Begleitung dazu bestellen.

Spitzenduo, Top-Team

Mit Hinblick auf die vielen kleinen und großen Teller, Schalen, Platten und die zahlreichen Gläser, die im Laufe eines Abends so an den Tisch kommen und wieder mitgenommen werden, und das alles mit scheinbarer Mühelosigkeit, Selbstverständlichkeit und dem Gespür für den idealen Zeitpunkt, fragt man sich schon: Wie kriegen die das so fulminant hin? Es ist nicht wuselig, sondern es schwingt. Keinerlei zackiges Schicken, ist eh ein hässliches Wort, sondern gekonnter und zugleich lockerer, persönlicher Service.

Damit sind wir zurück an der Koordinationsstelle, an der Julia Leitner all dies koordiniert. Schon mit 23 Jahren österreichische Pâtissière des Jahres geworden, ist sie seit Beginn Teil des „Coda“. Als Souschefin war sie ganz zu Beginn alleine mit Frank in der Küche. Diese leitet sie seit 2022 mit zwischenzeitlich deutlich gewachsenem Team. Sie habe sich im Coda stets weiterentwickeln können und nach wie vor große Lust, das Projekt weiter nach vorne zu treiben, erklärt Julia Leitner uns, nachdem wir in der Küche zuschauen durften, wie aus Kakaobohnen hausgemachte Schokolade wird.

„Es gibt keine klassischen Posten, es gibt Aufgabenbereiche. Und eigentlich sind alle Patissiers oder arbeiten abwechselnd als Gardemanger. Das Team produziert gemeinsam die Menüs. Manchmal entwickeln zwei gemeinsam ein Gericht“, berichtet sie im Interview mit Esspress. Frank (der früher abends oft hinter der Bar Drinks mixte) kann sich auf diese Weise mehr auf Events präsent sein, Mitarbeitende schulen und mehr Zeit am Gast verbringen.

PXL 20230825 2011116952 - interviews-portraits, konzepte, gastronomie, food-nomyblog Berliner Meisterköche 2023: Julia Leitner und René Frank, Coda Dessert Dining

Petersilienwurzel mit schwarzem Knoblauch und Pistazie

PXL 20230825 1958224702 - interviews-portraits, konzepte, gastronomie, food-nomyblog Berliner Meisterköche 2023: Julia Leitner und René Frank, Coda Dessert Dining

„Cacao & Crispy“

Die Pâtisserie stockt

Schokolade, ja die gibt es hier (und sie ist sehr lecker), aber eben auch Steckrübe. Frank: „Die riecht eigentlich etwas muffig. Aber wenn man sie einkocht und Süße und Erdiges ausbalanciert, kommen Trüffelnoten hervor, die würde man von diesem Gemüse nicht erwarten.“ Als Pioniere für eine neue Pâtisserie mag man sich nicht so recht sehen, merken wir. Die gibt sich weiter so fixiert wie es die Rezepte sind – wer backt, muss sich genau an Regeln halten, fertig werden, kalt stellen oder einfrieren, fertig ist die Laube.

Anders als beim Kochen geht es sonst schnell schief, und so scheint es mit der ganzen Zunft zu sein. Flexibel sei man eher im Bereich der Dekoration, geschmackliche Veränderungen und neue Techniken seien hingegen weiter selten. Dass man im Coda durchaus beides kann, zeigt das Caviar-Popsicle: Eiskrem aus Topinambur, Vanille und Pekannuss, mit Kaviar überzogen. Geschmacklich verblüffend und very instagrammable.

Die Reise geht weiter

Das Coda ist sechs Jahre nach seinem Start und trotz der Reise, das es hinter sich hat, noch lange nicht angekommen, sondern bleibt, da sind wir uns sicher, weiter in Bewegung. Im aktuellen Newsletter des Restaurants ist zu lesen, dass René Frank, ohnehin großer Japanfan, von der Kaizen-Denkweise inspiriert sei: stetige Veränderung hin zum Besseren. Das gilt hier für die Überarbeitung und Weiterentwicklung bestehender wie auch für die Kreation neuer Gerichte, wie aktuell eine Tarte aus Nordsee-Deichkäse, griechischer Feige und Erdnuss-Rindermark-Chantilly, auch vegetarisch verfügbar.

Wir gratulieren Julia Leitner, René Frank und der gesamten Coda-Crew, den Berliner Meisterköch*innen des Jahres 2023.

Weiterlesen:

KOMMENTIEREN

* Durch die Verwendung dieses Formulars stimmen Sie der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website zu.