Die Berliner Full-Service-Selbstbedienung

von Jan-Peter Wulf

dirty dishes - gastronomie Die Berliner Full-Service-Selbstbedienung

Kennen Sie die Berliner Full-Service-Selbstbedienung? Nein? Hier kommt´s.

Die Berliner Szenegastronomie ohne Selbstbedienung? Undenkbar. Anstehen am Tresen eins (linke Seite, Bestellung) und danach anstehen am Tresen zwei (rechte Seite, Bezahlung) gehören zum Gesamterlebnis einfach dazu. Ebenso das zum-Platz-Transportieren von Sandwich/artisanalem Gebäck, Third-Wave-Kaffee mit Schaum und Latte Art bis zum Becherrand und darüber hinaus sowie dem (auf Nachfrage) akzeptierten Nosingglas mit Leitungswasser. Manchmal steht das Leitungswasser zum Kaffee auch zur Selbstbedienung bereit, dann aber meistens an einem etwas von der Kaffeeausgabe entfernten Platz. 

Vermutung: Es geht hier nicht um Einsparung von Personalkosten. Es geht vielmehr darum, dem Gast ein Erlebnis zu schaffen. Aufenthaltsqualität in der Selbstbedienungs-Gastronomie, sie besteht vor allem darin, sich recht viel durch den liebevoll gestalteten Raum bewegen zu dürfen. Weil der Speisen- und Getränketransport fast immer ohne Tablett vonstatten geht (wie uncool sind bitte Tabletts, sind wir hier bei Ikea?), kann man sich unterwegs viel von diesem Raum anschauen und bleibt fit durch lange Laufwege (vor allem, wenn es nach draußen geht). Das gilt zumindest für alle, die nicht alles gekonnt auf Handfläche, Unter- und Oberarm verteilen können, weil sie nicht im Service gearbeitet haben, und im Service arbeiten tun immer weniger Menschen in dieser Stadt, weil es immer weniger Service gibt. Außerdem wäre es dämlich, so geschickt bepackt durch den Raum zu laufen – andere Gäste könnten davon irritiert werden und fälschlicherweise eine Bestellung aufgeben. Servicekleidung zur eindeutigen Unterscheidung gibt es nicht, das ist vorgestrig. Aber auch egal, da es ja gar keinen Service gibt. 

Am Platz wartet schon die Begleitung, dass man endlich zurück ist. Entweder, um endlich mit dem Essen und Trinken anfangen zu können, weil sie ihre Bestellung und ihren Transport schon vorher hat abschließen können („Wieso hat das bei Dir so lange gedauert?“), oder um selbst loslaufen zu können, vorher hat sie nämlich den Platz freigehalten. Praktisch ist es, wenn man nach der Bestellung eine Nummer wie auf dem Amt bekommt und man erstmal zum Platz zurück darf, dort wartend auf die roten Digitalziffern über dem Tresen starrt und beim Erscheinen der eigenen Nummer wieder durch den Gastraum marschiert. Alternativ tut auch ein Lautsprecher oder ein brüllender Barista dem gesamten Gastraum deinen Namen kund. Die Vapiano-Surrer, die bei Essen ist fertig zu schnarren und wandern beginnen wie ein altes Nokia-Telefon, haben sich nur selten in der Berliner Full-Service-Selbstbedienung durchsetzen können. Sie sind auch sehr unpersönlich, irgendwie, wir sind hier ja nicht in der Systemgastronomie. Oder? 

Dann trinkt man schnell seinen Kaffee und buttert seine organische Dinkel-Rhabarber-Stulle mit Mangold-Käse-Aufstrich und genehmigt sich abschließend den 4-cl-Wassershot, und dann wird es auch bald Zeit zu gehen. Dafür steht dann irgendwo am anderen Ende des Raumes ein Abräumtisch, auf den man seinen Teller, seinen Becher, seinen Löffel und sein Glas stellt. Dieser Abräumtisch wiederum aber nicht so oft vom Tresenteam selbst abgeräumt (wer schäumt dann die Milch auf?), deswegen steht er voll. Wohin mit dem dreckigen Geschirr? Antwort: stapeln. Gabel und Löffel von einem bereits abgestellten Teller nehmen und den eigenen darauf platzieren, Löffel und Gabel in ein dreckiges Glas stellen. Dafür bekommt man dann manchmal ein nettes „Thank you“ von einem Mitarbeiter zugeraunt. 

Und richtig Full-Service-SB wird es, wenn man nicht nur sein eigenes Geschirr und Besteck zurückbringt, sondern auch das, was die Vorbenutzer am Platz, den man hat ergattern können, stehen lassen haben. Das ist kein großer Akt (zusammengestellt hat man es eh schon, um Platz für die eigenen Sachen auf dem 20×20-Tisch zu schaffen), und in diese Meisterklasse der SB-Gastronomie aufzusteigen, ist gar nicht so schwer. Denn einen unabgeräumten – und unabgeräumt bleibenden – Tisch vorzufinden in der Berliner Full-Service-SB, kommt gar nicht so selten vor. Es scheint immer noch genug Menschen zu geben, die das Prinzip nicht verstanden haben.

Leben die etwa in einer Serviceoase? 

 

Foto: dirty dishes via Shutterstock

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