Im 10. Wiener Gemeindebezirk war einst die Zentrale von Siemens zu Hause. Heute betreibt das Food-Startup Herd in der alten Kantine des Konzerns eine professionelle Coworking-Küche. Jasmin Tomschi traf Gründer Marko Ertl vor Ort zum Gespräch über infrastrukturelle Hürden in der Gastronomie, das perfekte Timing und die Großküche von morgen.
Wer nahe Wiens berühmter Ankerbrotfabrik unterwegs ist, geht entweder noch zur Schule, befindet sich gerade in der Ausbildung oder arbeitet auf dem Gelände der ehemaligen Siemens-Zentrale. Nachdem die Büros des Technologiekonzerns vor etwa zehn Jahren geräumt wurden, zogen anstelle der nächsten großen Firma nach und nach mehrere kleinere Unternehmen ein. So auch das Wiener Startup Herd – mit einer 700 Quadratmeter großen, voll ausgestatteten und genehmigten Produktionsküche in Form eines modernen Coworking-Spaces.
Schon erstaunlich, dass Gemeinschaftsküchen nicht nur im überschaubaren Wien als etwas Neuartiges gehandelt werden, sondern auch in weitaus größeren Städten wie Berlin oder London noch kaum bis gar nicht vertreten sind.
Dabei macht das Konzept so viel Sinn: die einen kümmern sich um die Infrastruktur, die anderen zahlen einen monatlichen Beitrag und dürfen kochen wie die Profis. Darüber freuen sich nicht nur Food-Entrepreneure, sondern auch die Kollegen von der Behörde, die davon ausgehen können, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
Vom Foodtruck zur Open Kitchen
Die Idee geht zurück auf Wrapstars – Österreichs ersten Foodtruck, den Marko Ertl im Jahr 2013 mit Matthias Kroisz und der Hilfe von Koch David Weber startete. „Das Problem mit einem Foodtruck ist, dass du bestimmte Rahmenbedingungen hast und zum Beispiel nicht im Truck kochen darfst. Du brauchst immer eine offizielle Küche, wo du angemeldet bist“, so Ertl.
Man sah sich an, wie es Gleichgesinnte in anderen Ländern machen und fand in den USA die so genannten Commissary Kitchens, in die sich Foodtrucker zum Vorkochen einmieten können. „Zuerst haben wir als Extra in einer kleinen Kantine gearbeitet, aber da hatten wir keine wirkliche Sicherheit. Also haben wir alle Caterer in Wien angeschrieben und gefragt, ob irgendwo eine Küche frei ist, bis der Tipp von der Siemens-Location kam“, erinnert sich Ertl zurück. Sechs Monate nach Besichtigung öffnete Herd an Ort und Stelle – inklusive Trockenlager, Kühlräumen, Müllraum sowie einem Außenbereich mit LKW-Zufahrt und mietbaren Parkplätzen.
Start mit Metro als Hauptsponsor
„Die Räumlichkeiten waren früher für die Ausgabe von 3000 Gerichten pro Schicht konzipiert“, erzählt Ertl nach einer Führung durch die Gemeinschaftsküche, die er seit 2017 mit seinen Wrapstars-Partnern betreibt. Heute sind hier eine Reihe von professionellen Kombidämpfern, Kochkesseln, Kippern, Grill- und Herdplatten, Schockfrostern, Mixern und Spülen so angeordnet, dass mehrere Gastronomie-Projekte gleichzeitig damit arbeiten können.
Für die Mission von Herd durfte die alte Struktur des Gebäudes zu weiten Teilen bestehen bleiben. Das riesige Fließband hingegen, wo einst Tabletts durchgefahren sind und gespült wurden, musste komplett entfernt werden. Klingt nach großem Aufwand und einem riesigen Investment. Wie kann sich ein Startup so etwas leisten?
Über den Own Business Day, den Metro im Jahr 2016 gemeinsam mit Wrapstars umgesetzt hat, bestand Kontakt zum Unternehmen: „Unser Herd-Konzept passte perfekt ins Portfolio von Metro, die unser Hauptsponsor wurden. Die Firma Hobart hat uns sehr starke Preisnachlässe gegeben und eine Spülmaschine gesponsert. Den Rest haben wir mit Wrapstars und über Kredite finanziert“, erläutert Ertl. Und dass auch der Eigentümer des Hauses hilft, wo er kann, kommt dem Startup natürlich ebenfalls sehr entgegen.
Mitgliedschaften: acht Stunden im Monat bis 24/7
Das innovative Konzept von Herd setzt sich aus unterschiedlichen, monatlich buchbaren Paketen zusammen, die auf diverse Unternehmensprofile zugeschnitten sind. Einem „New Kid On The Herd“ steht ein Produktionstag für 200 Euro im Monat zur Verfügung, jeder weitere kostet nur noch die Hälfte.
„Das Profil ist für jemanden, der komplett am Anfang steht, gerade Produktentwicklung macht und noch nicht weiß, ob er ein- oder zweimal pro Woche produzieren muss“, so Ertl.
Um jene Phase zu überbrücken, in der Food-Entrepreneure noch nicht sicher sind, wie ihr Business langfristig laufen wird, aber schon einen Rhythmus und erste Kunden haben, rät Ertl den Wechsel auf das geringfügig ausgelegte „Go Pro Starter Kit“ Paket für 450 Euro im Monat. Lagerfläche ist für Einsteiger im Baukasten-Prinzip und pro Meter zubuchbar, ab der Teilzeit-Mitgliedschaft ist sie dann automatisch dabei.
So auch eine Geschäftsadresse, die für Gründer einen großen Vorteil im Bezug auf Behördenangelegenheiten darstellt: Sie arbeiten in einer offiziell abgenommenen Küche, um Anliegen wie Schädlingsbekämpfung, Reinigung und Reparaturen kümmert sich Herd.
„20 Stunden pro Woche wären dann für jemanden, der schon viel Geschäft hat und im Wachstum ist“, fährt Ertl fort. Wer es schafft, in dieser Phase Küchenstunden zu reduzieren, kann noch im Paket bleiben, bevor der Kostensprung auf „Vollzeit“ oder die maßgeschneiderte „All in“-Mitgliedschaft ansteht. Von Letzterer machen traditionelle Caterer, ein vielseitiges Delivery-only-Konzept wie das der deutschen Honest Food Company oder die Wrapstars selbst Gebrauch. Gearbeitet wird dann mindestens zwölf Monate lang auf exklusiven zehn Quadratmetern, gerne 24/7.
Coworking: Auch für die Großen
Im Grunde können sich kleine Unternehmen, die erst noch Gestalt annehmen werden, hier in ein gemachtes Nest setzen. Sie profitieren unter anderem davon, keine großen Investitionen aus eigener Tasche bezahlen zu müssen. Doch warum entscheiden sich auch bereits etablierte Unternehmen für eine Coworking-Küche?
„Bei den Großen kommen schon andere Faktoren hinzu: Nicht jede Location eignet sich – sie muss am richtigen Ort, aber auch groß genug sein“, gibt Ertl zu bedenken. Wächst ein Unternehmen, muss es in der gewählten Küche weiterwachsen können oder wieder eine neue Location suchen. „Bei uns haben alle eine gewisse Flexibilität. Man mietet sich ein und kann ein Jahr später immer noch adaptieren oder entscheiden, dass man woanders hingeht“, so Ertl.
Wo fließt das Geld, das über die einzelnen Mitgliedschaften eingenommen wird, denn eigentlich hin? „Einen großen Teil fressen Energie, Betriebskosten und die Erhaltung des Gebäudes. Die Küche ist schon 30 Jahre alt, ihre Lüftung für nur einen Mieter konzipiert und es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwas repariert werden muss“, schildert Ertl.
Die Mieter haben keine Sorgen wegen der Stromkosten oder wenn ein Ofen ausfällt und Ersatz angeschafft werden muss. „Das tut einer einzelnen Firma sehr weh. Wir kümmern uns darum, dass jeden Tag alles funktioniert, soweit es geht. Wenn das Magistrat kommt und eine kaputte Fliese entdeckt, machen wir das und unsere Kunden können in Ruhe weiterarbeiten. Wir sind mehr oder weniger die Hausmeister für sie“, bringt es Ertl auf den Punkt.
Kooperationen und Synergien
Bei Herd tauschen sich blutige Anfänger und geübte Gastronomen über brancheninterne Herausforderungen aus, während Köche die Interaktion schätzen, die entsteht, wenn man sich mit anderen Teams eine Küche teilt. Doch im Großen und Ganzen kocht jeder sein eigenes Süppchen.
Zeit für die Umsetzung eines gemeinsamen Bestellsystems fand man bislang noch keine. Die Zwischenlösung sieht so aus, dass sich kleinere Unternehmen an einen etablierten, täglich aktiven Herd-Kunden hängen, um eine Mindestbestellmenge zu erreichen und auch gleich die Liefergebühr zu sparen.
Könnten Food-Entrepreneure dann nicht vielleicht auch dieselben Fonds und Saucen verwenden, um Zeit und Kosten zu sparen bzw. Foodwaste zu verhindern? Auch das obliegt jeder Firma selbst bzw. macht man sich bei Herd untereinander aus.
„Ich weiß zum Beispiel, dass jemand wie Einsundeinsdeluxe, die eine Mini-Kantine für die Umgebung betreiben, gerne Zutaten verkochen, die bei der Produktion zu viel eingekauft wurden und sonst keine Verwendung mehr hätten“, erzählt Ertl. „Außerdem haben wir einen Kühlschrank von Foodsharing.at, wo Essensreste nach Caterings bereitgestellt werden können. Aber häufig erledigt sich dieses Thema bereits an den Locations selbst.“
Gemeinschaftsküche – quo vadis?
Im Gespräch wird klar, dass Herd für diejenigen einsteht, die langfristig in der Gastronomie Fuß fassen wollen. Über einen exklusiven Catering-Deal mit der Wiener Event-Location Albert Schweitzer Haus werden ausschließlich Herd-Kunden vermittelt. Daneben hat Herd gemeinsam mit Metro und der Modul University Vienna ein Accelerator-Programm ins Leben gerufen, das F&B-Startups beim Markteintritt unter die Arme greift.
Und weiter? „Wir arbeiten gerade an einer neuen Idee. Die nächste Coworking-Küche wollen wir mit einer Kantine verbinden“, verrät Ertl. Das Ziel ist, sofort eine Ausgabe zu haben und das gewöhnliche Kantinen-Konzept so abzulösen, dass nicht nur ein Team, sondern mehrere, lokale Unternehmen dafür produzieren können. „Dann gibt’s nicht mehr nur Menü 1 und Menü 2, sondern Startup 1 und Startup 2“, so Ertl.
Das könnte in allen Aspekten interessanter als eine klassische Kantine sein. Immerhin dürfen sich Gäste schon allein dank automatischer Fluktuation über abwechslungsreiches Essen statt Massenware freuen. Außerdem haben Startups oft wenig Geduld oder einfach zu wenig Erfahrung im Verkauf: „Es gibt viele, die sicher ein gutes Produkt machen, das schmeckt, aber die einfach nicht wissen, wie sie es an den Mann bringen sollen“, bestätigt Ertl.
Deshalb wird seine Wunsch-Kantine den Unternehmensstart an erste Umsätze, Kunden-Feedback und persönliche Beziehungen zwischen Erzeuger und Kunden koppeln.