Kaum ein Thema ist in der Gastronomie so unbeliebt wie dieses: sexuelle Übergriffe und Belästigung am Arbeitsplatz. Kaum wird es angeschnitten, kommt das Argument: „Es ist doch schon so viel passiert und viel besser geworden als früher.“ Die Frage ist nur: Was ist besser geworden?
Wir hatten große Skandale zum Thema Machtmissbrauch in den letzten zwei Jahren, und das in den unterschiedlichsten Branchen. Es gab große Protestwellen und breite öffentliche Diskussionen in einigen Bereichen. Sei es der Rammstein-Skandal und der Umgang mit vor allem weiblichen Fans, oder der Fall Till Schweiger und seine Einstellung zu Alkohol, Abhängigkeiten von Crew-Mitgliedern und Atmosphären der Angst.
In der Gastronomie gab es den großen Skandal um Christian Jürgens vom Restaurant Überfahrt. Während es in der Konzert- und Filmbranche Konsequenzen aus dem Diskurs und dem Weinstein-Skandal gab, zum Beispiel das Einführen von Vertrauenspersonen an Filmsets, die darauf achten, dass alle Beteiligten gut behandelt werden und nichts passiert, was nicht freiwillig und angemessen ist, passierte in der Gastronomieszene erstaunlich wenig.
Nachdem sich die Aufregung und Sensationslust über den großen Spiegel-Artikel gelegt hatten, ist wenig bis gar nichts passiert. Ich erinnere mich an kein Medium, das einen größeren Diskurs in der Branche angeregt hätte. Mir geht es hier ausdrücklich nicht um Schuldzuweisungen. Dafür gibt es Gerichte. Mal beiseite gelassen, wie schwierig Übergriffe zu benennen sind, wenn Opfer in der Beweispflicht sind bei psychologischem Druck und Machtmissbrauch, verbunden mit Abhängigkeiten … aber das ist ein anderes Thema.
Warum wird dieses Thema so totgeschwiegen?
Und wie soll sich jemals etwas ändern, wenn es quasi verleugnet wird?
Laut einer aktuellen Studie, die die Wirtschaftskammer Wien zusammen mit der Gewerkschaft Vida und der Arbeiterkammer Österreich durchgeführt hat (Quelle: Falstaff Profi, August 2024), bestätigen 70 % der Angestellten, dass sie innerhalb der letzten zwei Jahre sexuelle Belästigung ausgesetzt waren, diese beobachtet oder davon erfahren haben.
70 Prozent! Dass die Zahl hoch sein würde, hat wohl kaum jemanden überrascht, der in der Gastronomie aktiv ist, vor allem wenn man im Nachtleben oder Abendservice tätig ist. Aber ein so hoher Prozentsatz ist doch erstaunlich, wenn man bedenkt, wie still es in der Branche dabei ist. Die Zahlen aus Österreich werden sich in Deutschland wohl nicht großartig unterscheiden.
Warum wird das alles ignoriert? Die Branche ist doch so eng vernetzt, dass es intern einen Aufschrei geben müsste. Warum übernehmen Arbeitgebende nicht diese Aufgabe und stellen sich ihrer Fürsorgepflicht? Sollte es nicht absolut selbstverständlich sein, mit seinen Teams über das Thema Übergriffe aller Art (nicht nur sexuelle) zu sprechen?
Ein furchtbarer Gedanke wäre, dass sie vielleicht selbst Täter sind und deshalb keine Sensibilität für Derartiges haben. Aber das glaube ich nicht. Und ich sehe in meinem Alltag viel zu viele aufrichtige und sehr engagierte Arbeitgebende. Einige werden jedoch wohl auch „Dreck am Stecken haben“, sei es als Täter oder Täterin, als Person, die so etwas in der Vergangenheit geduldet hat oder vielleicht immer noch duldet, oder als Person, die etwas beobachtet und ignoriert hat.
Gerade der laxe Umgang mit eindeutigen oder auch zweideutigen Situationen, egal ob in der Vergangenheit oder aktuell, macht es möglicherweise schwierig, sich aufzurichten und Missstände anzusprechen. Und es ist egal, ob die Übergriffigkeit von Gästen ausgeht oder unter Kolleg:innen stattfindet. Es gibt ohne Zensur keine Veränderung.
Also was tun? Wie fängt man an?
Der erste Schritt zur Prävention beginnt mit der Definition, was eine sexuelle oder sexualisierte Belästigung ist:
- Welches Verhalten ist unerwünscht?
- Welches Verhalten ist herabwürdigend?
- Welches Verhalten hat ein feindseliges oder unangenehmes Arbeitsumfeld zur Folge?
- Und was wohl am schwierigsten ist: Welches Verhalten stammt aus der sexuellen Sphäre?
Noch immer wird von vielen Menschen nicht verstanden, dass sexuell konnotierte Komplimente in einem professionellen Arbeitsumfeld nichts zu suchen haben. Der Hintern, die Beine oder was auch immer sollten niemals, auch nicht positiv, bewertet werden. Das beinhaltet immer eine Objektivierung einer Person. Auch ist die Annahme falsch, dass sich insbesondere Frauen prinzipiell über solche Bemerkungen freuen und ihren Selbstwert daraus ziehen. Oder dass es sie stolz macht und motivierend wirkt. Auch Menschen, die älter sind und bestimmte Redewendungen in einem anderen Zeitgeist gelernt haben, müssen umlernen und die Sensibilität einer anderen Generation respektieren.
Es geht nicht immer gleich um das Erstellen eines Manifests. Die Formulierung „Code of Conduct“ überfordert vielleicht auch die eine oder andere Person. Doch es sollte schon geklärt werden, was in einem Team als unangemessen und angemessen empfunden wird.
Mir als Trainerin und Coach, also einer externen Person, die mit Teams arbeitet, passiert es immer häufiger, dass ich, bevor ich in einem Unternehmen beginne, ein Formular unterzeichnen muss, das Verhaltensweisen klärt. Was ich persönlich als sehr angenehm empfinde. Da stand bisher noch nichts drin, was ich nicht schon mache, aber es zeigt, dass ein Unternehmen ein Bewusstsein für bestimmte Dinge hat und sein Team vor Personen schützt, die von außen kommen und vielleicht andere Regeln haben.
Allerdings habe ich so ein Formular noch nie im Gastronomiekontext erhalten. Das sagt auch schon etwas aus. Allein wenn man als Person bei einer Neueinstellung ein Formular mit Hinweisen zusammen mit dem Arbeitsvertrag bekommt, setzt das ein Zeichen und sorgt für Bewusstsein.
Es heißt: Schweigen ist Zustimmung.
Zu glauben, dass man den einzigen Betrieb leitet oder in dem einzigen Betrieb arbeitet, auf den die erwähnten 70 Prozent nicht zutreffen, ist ignorant. Zu glauben, dass man, wenn man Mitarbeitende zwischen zwei Schichten fragt, ob sie sich sicher und respektiert in ihrem Umfeld fühlen, eine ehrliche Antwort bekommt, ist naiv. Niemand weist sich selbst gerne als Opfer aus. Scham und Verdrängung spielen dabei eine große Rolle. Und ein „War doch alles nicht so schlimm“ ist auch ein Mantra, das man sich gerne selbst zuraunt, um sich zu beruhigen.
Als Führungskraft hat man eine Fürsorgepflicht, die gesetzlich verankert ist. Man macht sich schuldig, wenn man von sexuellen Übergriffen weiß und die betroffenen Personen nicht schützt. Ein erster Schritt für ein waches und achtsames Umfeld ist das Besprechen von Prozessen bei eventuellen Vorfällen. Betroffene sollten nie Angst vor negativen Konsequenzen oder ungeschicktem Verhalten haben, wenn sie Unangenehmes ansprechen. Es gibt von vielen unterschiedlichen Institutionen Informationen und Beratungsangebote. Auch hat die Zahl der Coaches, die sich in solchen Thematiken auskennen, deutlich zugenommen.
Warum also nicht beim nächsten Team-Event den Kletterpark skippen und proaktiv über etwas sprechen, das überfällig ist?
Übrigens: Als Resultat der o.g. Studie wurde in Österreich ein Leitfaden entwickelt, der hier kostenlos zum Download zur Verfügung steht.
Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 116 116
Workshop mit Andrea Grudda und Joanna Kohrs am 2. Dezember im Nomi Berlin
Da es auch von der Gastseite immer häufiger zu sexistischen, rassistischen oder ausländerfeindlichen verbalen Attacken kommt, bietet Andrea Grudda am 2. Dezember 2024 zusammen mit Joana Kohrs einen offenen Workshop zum Thema „How to treat assholes“ an. Es geht darum, Übergriffe zu erkennen und dann adäquat zu reagieren. So, dass sich Mitarbeitende beschützt und andere Gäste nicht gestört fühlen.
2. Dezember, 10 bis 14 Uhr, Nomi Weinbar, Berlin-Kreuzberg
Kosten: 200 EUR pro Person, begrenzte Teilnehmerzahl.
Anmeldung: