Ingeborg Schwenger-Holst: „Die ersten Stufen der Pandemie-Bekämpfung wurden völlig verschlafen“

von Jan-Peter Wulf
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Dr. Ingeborg Schwenger-Holst

Dr. Ingeborg Schwenger-Holst hat (mindestens) zwei Berufe, die eher selten zusammen kommen: Sie ist Ärztin, Chirurgin und Homöopathin, und hat u.a. die Klinik für Minimal Invasive Chirurgie in Berlin ab 1992 mit aufgebaut und bis 2005 geleitet. In dieser Zeit war sie im Zuge der SARS-Epidemie in die Pandemiepläne involviert. Derzeit betreibt sie das Landgut Schönwalde-Glien im Havelland nahe Berlin mit Gastronomie und Reitbetrieb. Zudem entwickelt und vertreibt sie Produkte für die regenerative Landwirtschaft mit ihrer Firma Brainstep.

Sie hat sich in den vergangenen Wochen schon früh und wiederholt kritisch bezüglich des Handelns – oder Nichthandelns – der Bundesregierung in der sich anbahnenden Coronavirus-Krise geäußert. Wir kennen Frau Schwenger seit unserem schönen Besuch vor Ort vor knapp vier Jahren, deswegen das du an dieser Stelle. 

Inge, wie bewertest du die aktuelle Situation in Deutschland hinsichtlich der Vorsichtsmaßnahmen? Aus deinen bisherigen Facebook-Postings lese ich heraus, dass du dir hier ein früheres und zügigeres Handeln gewünscht hast?

Nun, in Deutschland, eigentlich in ganz Europa, hat man fast alles falsch gemacht, was bei einer absehbaren Pandemie-Entwicklung falsch gemacht werden kann. Dadurch hat man sechs Wochen verschenkt.

Inwiefern? 

Eigentlich wurden die ersten beiden Stufen der Pandemie-Bekämpfung vollständig verschlafen. Unnötig, da ja schon 2013 dem Bundestag eine Simulation einer neuen Corona-Pandemie vorlag, die fast identische Szenarien beschrieben hat, wie wir sie jetzt sehen. Mit der Weigerung einer Einreisesperre für das Ausgangsland China wurde die erste Barriere, die man normalerweise zieht, gar nicht erst gezogen. Sie soll verhindern, dass das Virus überhaupt aus dem Epizentrum in andere Länder und Regionen übergeht. Spätestens seit der sogenannten „Webasto-Kette“ in Bayern , ganz zu Anfang der Pandemie, wäre konsequentes und europäisch koordiniertes Handeln erforderlich gewesen.

Als dann klar wurde, dass weitere Fälle in Deutschland existieren und sich diese auch ausweiten, wurde kein konsequentes Containment, also die Identifizierung und Isolierung möglichst aller Infizierten und ihrer Kontakte, durchgeführt. Die reine Verfolgung von bekannten Infektionsketten war aus meiner Sicht eine nicht einmal als halbherzig zu bezeichnende aktivistische Entscheidung, da allen Beteiligten hätte klar sein müssen, dass neben den bekannten Ketten weitere , nicht identifizierte Infektionsherde bestanden haben müssen. Die Forderung wie die des Virologen Kekulé nach einer Testung aller klinischen Verdachtsfälle wurde einfach überhört. Damit verbunden, wurden Schutzmaßnahmen der Bevölkerung wie das Tragen von Masken, die Ausrüstung von Polizei, Feuerwehr , Krankenhäusern etc. mit Schutzanzügen weder vorbereitet noch durchgeführt. Vielmehr wurde durch das Statement des Robert-Koch-Instituts, Mund-Nase-Masken würden nichts nützen, und durch das unverantwortliche Zusehen der Verantwortlichen in Bezug auf die absehbare Verknappung von Schutzausrüstung und Desinfektionsmitteln quasi für die weitere Verbreitung des Virus in der Bevölkerung gesorgt.

Und wie bewertest du die aktuellen Maßnahmen?

Das jetzt notwendige Programm der Mitigation, also der Verlangsamung der Virusausbreitung und damit Verbreiterung der Infektionswelle wird in großen Teilen stümperhaft, völlig überstürzt und ohne die Unterfütterung durch eine durchdachte Planung durchgeführt. Hier möchte ich nur das Beispiel der Schul- und Kindergartenschließungen nennen. Ebenso die kaum vorhandene medizinische Infrastruktur, was eine Seuchenbekämpfung angeht. Derzeit haben wir die „Alternative“ zwischen überfüllten Arztpraxen, die selbst zum Infektionsherd werden, und Tausenden von Erkrankten, die unversorgt zuhause an Telefonhotlines verwiesen werden. All diese Versäumnisse zusammen genommen sind der Grund für eine Situation, in der derzeit den Bürgern Europas ihr Grundrecht auf Bewegungsfreiheit genommen werden muss.

Was ist jetzt, heute, konkret zu tun aus deiner Sicht?

Zunächst müssen wir Kontrolle über die Zahlen bekommen. Dass heißt, die restriktive Testpolitik muss aufgehoben werden. Alle Verdachtsfälle sind unabhängig vom möglichen Ausgangspunkt der Infektion zu testen. Die Tests müssen sofort kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Nur so können wir annäherungsweise schätzen, wie viele schwere und schwerste Fälle auf unser Gesundheitssystem in den nächsten Tagen und Wochen zukommen. Derzeit ist ja im Gespräch, dass aus Kostengründen nur noch die Patienten getestet werden , die stationär behandlungspflichtig sind – eine weitere Kapitulation vor den Notwendigkeiten der Eindämmung von COVID-19. 

Neben den konsequenten Quarantäne-,  also Kontaktsperre-Maßnahmen, ist sofort für eine radikale Umstrukturierung der Versorgungsstrukturen in den Kliniken zu sorgen. COVID-19 Patienten dürfen wenn irgend möglich nicht mit „normalen“ Patienten in Berührung kommen, weil gerade Letztere besonders gefährdet sind, einen schweren Verlauf zu entwickeln. Außerdem sind unsere Krankenhäuser auch in Zeiten ohne Pandemie nahezu voll ausgelastet. Das deutsche Gesundheitswesen verfügt über einen einzigartigen klinischen Bereich , nämlich den der Rehabilitations- und Vorsorgekliniken. Diesem Bereich sind fast 170.000 Betten zugeordnet. Hinzu kommen Tausende von ambulanten Operationssälen. Beide Bereiche versorgen zum weitaus größten Teil sogenannte elektive Fälle, die nicht zwingend jetzt bzw. in den nächsten Wochen versorgt werden müssen.

Nimmt man beide zusammen, also stattet man vorübergehend Rehabilitationszentren mit den genannten Beatmungsgeräten aus, überzeugt man zusätzlich die frei werdenden Operateure, Anästhesisten und das dazugehörige Pflegepersonal, kurzzeitig die Behandlung schwerer COVID-19-Patienten zu übernehmen oder in andere Bereiche zu wechseln, um so die ärztliche und pflegerische Betreuung insgesamt während dieser fragilen, etwa zwei- bis dreimonatigen Hochphase der Ausbreitung aufzustocken, so müsste man den Overload der hiesigen Kliniken, wie er in Italien jetzt sichtbar ist, vermeiden können. Dies allerdings verlangt kreatives und sofortiges Handeln, das heißt eine völlig andere Einstellung als die, die in den vergangenen Wochen geherrscht hat.

Du bist auch Gastronomin und betreibst ein Landgut mit Restaurant im Saisonbetrieb. Wie bist du in den vergangenen Tagen konkret vorgegangen? Und wie habt ihr euch auf die kommende Situation eingestellt?

Die Ereignisse in Deutschland haben sich ja in den letzten Tagen – nicht einmal Wochen – überschlagen und die fehlende politische Linie in Bezug auf das Virus, zuerst Verharmlosung und dann Aktivismus und Planlosigkeit, haben es natürlich auch nicht möglich gemacht, in unserem Betrieb zu planen. Die Saison geht jetzt langsam los, wir hatten eine ausgesprochen erfreuliche Buchungssituation für Hotel und Restaurant. In den letzten Tagen allerdings überschlagen sich die Meldungen, die Menschen stornieren und eine Sicherheit existiert nicht mehr. Ohne die Aussicht auf irgendeine Einnahme ist es als kleiner Betrieb auch unmöglich, das Personal zu halten. Wir hoffen, dass es nicht weiter eine Lämmerschwanzpolitik, sondern eine halbwegs gerade Linie gibt – ab dieser Zahl die, ab jener Zahl jene Konsequenz. Das hätte bereits am Anfang der Epidemie ausgerechnet und bestimmt werden können. So hätte sich jeder hier im Land vorbereiten können.

Welche Tipps hast du für die Kolleg*innen im Land – sowohl als Unternehmer*innen als auch als Privatpersonen?

Erstmal trotz allem entspannt bleiben. Dass Bundesregierung und Länder erhebliche Mittel für das Überleben der Betriebe zur Verfügung stellen, ist ja wirklich eine gute Nachricht ist und auch beruhigend. Hier scheint Olaf Scholz einen guten Job zu machen. Wichtig ist erstmal, dass wir unsere Mitarbeiter schützen. In meinem Entwicklungsbereich sind alle Beschäftigten im Home Office seit ungefähr einer Woche. Die Restaurantmitarbeiter und unser Erzeugermarkt werden so weit möglich mit Schutzmasken ausgestattet. Desinfektionsspray für die Oberflächen ist im ganzen Betrieb vorhanden. Wenn die Sonne scheint, werden wir ab April einen High-Distance-Biergarten anbieten. Unser Markt versorgt jeden Freitag jeden mit gesunder Nahrung aus regionalen Biobetrieben.

Worauf müssen wir uns deiner Meinung nach in den kommenden Wochen einstellen?

Wir werden – sofern die Verantwortlichen nicht die Testrestriktionen für eine Vertuschungspolitik nutzen – einen weiterhin dramatischen Anstieg der Infektionen sehen und auch dreistellige Zahlen an Menschen, die der Krankheit erlegen sind. Die Entscheidungen bezüglich des Gesundheitssystems (s.o.) werden letztlich darüber entscheiden, ob viele Menschen es überleben oder ob wir mit den Sterberaten in Richtung Italien schlittern.

Was das Durchhaltevermögen der Leute angeht: Wenn die Quarantäne die 14-Tages-Linie überschreitet, kann ich keine Voraussagen treffen. Auch das liegt am Staat und an der Zuversicht, die durch die Maßnahmen bestimmt wird. Wenn wie zuletzt bei Anne Will der Kanzlerkandidat Laschet sich argumentativ hinter den beratenden Epidemiologen versteckt, anstatt die angesprochenen epochalen Fehler einfach einmal zuzugeben und Besserung zu geloben – zum Beispiel indem man solche Berater in die Wüste schickt –, ist dies ein jammervolles Bild, was keinerlei Vertrauen der so schon gebeutelten Bevölkerung hervorrufen wird. Ganz ungut wäre es, die Leute weiterhin im Dunkeln zu lassen oder so wie in den Anfangswochen zu beschwichtigen. Das soziale Netz und die Medien decken derartigen Betrug auf.

Aus meiner Sicht haben wir bis circa Ende Mai, also noch acht Wochen, erheblich mit der Epidemie zu kämpfen. Danach werden wir eine Beruhigung der Verhältnisse sehen. Sind aber dann nicht wirklich alle Infizierten identifiziert, werden wir es nach der Aufhebung der Quarantäne bzw. der Beschränkungen mit einer zweiten, eventuell heftigeren Welle zu tun bekommen.

Vielen Dank für deine Einschätzung, Inge. 

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