Die in Schweden lebende Australierin Kate Bailey kennt sich mit der Berliner Gastronomie aus: Sie betrieb ihr vor einigen Jahren selbst ein Konzept und ist nun grenzübergreifend als Beraterin für die Branche tätig. Wir baten sie um ihre Einschätzung der hiesigen Situation, wir sprachen über das Abwägen von geöffnet oder geschlossen bleiben, den Draht zum Team – und warum das gewerbliche Mietrecht in Schweden Gastro-Mietern deutlich bessere Bedingungen gewährt.
Kate, was glaubst du, ob und wie die Gastronomien den Lockdown – jetzt mindestens bis zum 3. Mai verlängert – durchstehen werden?
Ich denke, dass ein größerer Teil der Gastronomen sein Geschäftsmodell schon anpassen kann – etwas wie Delivery kann allerdings nur einen Teil der Gewinneinbußen auffangen und ist bei vielen weit entfernt davon, für Profitabilität zu sorgen Zumindest aber, sorgt dies für einen gewissen Cashflow. Wichtig ist, sich jegliche mögliche finanzielle Unterstützung einzuholen, um weiterhin am Markt bestehen zu bleiben.
Es ist genau zu prüfen: Ist es finanziell lohnenswert weiterhin geöffnet zu bleiben oder bis auf Weiteres zu schließen, um ein fortschreitendes Minusgeschäft zu vermeiden? Also im Prinzip: Was kostet es mich, wenn ich bis auf Weiteres geschlossen bleibe, und was hingegen kostet es mich, wenn ich mit Lieferung und/oder Abholung geöffnet bleibe? Das ist im Einzelfall unterschiedlich zu bewerten und hängt insbesondere vom Konzept der Unternehmung ab. Beispielsweise lassen sich diesbezüglich Fragen stellen, welchen Anteil der Verkauf von Getränken am Umsatz besitzt, ob man mit zahlreichem Laufpublikum gesegnet ist oder nicht und so weiter. Zudem, ob es ganzheitlich gesehen mehr Sinn macht, die Präsenz des Gastgewerbes aufrecht zu erhalten, als möglichen immateriellen Wert. Es kann tatsächlich besser sein, geschlossen zu bleiben. Dies ist selbstverständlich eine harte Entscheidung, die individuell zu fällen ist.
Es ist zu vermuten, dass es nur schrittweise Lockerungen geben wird. Zudem ist überhaupt nicht klar, wie die Gäste reagieren. Du berätst ja auch Betriebe in Berlin, was empfiehlst du denen diesbezüglich?
Wir skalieren und machen schrittweise Pläne, damit wir das Angebot an die Umstände anpassen und dann entsprechend umsetzen können: Aktuell machen Konzepte wie Pickup und Lieferung am meisten Sinn, danach könnte vielleicht ein limitiertes Inhouse-Menü dazu kommen. Eventuell auch der Ausbau von Office-Catering. Möglichkeiten gibt es zahlreiche. Die Herausforderung ist: Wir uns an einem Zeitstrahl orientieren, bei dem es bislang keine festen Termine gibt.
Der Schlüssel zum Erfolg besteht in dem Sinne darin, seine Chancen und Risiken genau abzuwägen und in Relation zu Zeit- und Arbeitsaufwand, sowie zu finanziellen Ressourcen zu stellen.
Wie halte ich in dieser Situation den Draht zum Team?
Mit Ehrlichkeit und Transparenz. Es zeigt sich bei all unseren Kunden, dass dies ein guter Weg ist. Wir alle stecken in dieser Situation fest, aber wir alle haben auch unterschiedliche Sorgen und Wünsche: Der eine möchte arbeiten, der andere lieber zu Hause bleiben. Viele sorgen sich um ihre eigene Gesundheit und die der anderen. Angst ist ein ständiger Begleiter, daher braucht es sehr viel Vermittlung und Gespräche. Es ist in jedem Fall sinnvoll, die Mitarbeiter*innen einzubeziehen: Wie schaffen wir es gemeinsam, unsere Jobs und unseren Lebensunterhalt zu sichern? Die Mitarbeiter*innen sind verständnisvoller, als man vielleicht denken mag.
Viele Unternehmer*innen befürchten jedoch, dass je länger der Lockdown andauert, die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die Leute von Bord gehen – beziehungsweise nicht zurückkommen. Was ich ein Stück weit verstehen kann: Warum sollten sie in einer derart unsicheren Branche bleiben?
Diese Situation hätte mit einem politischen Eingriff deutlich abgemildert werden können. Die Gastronomie besitzt nicht dieselben Vorteile wie andere Branchen. Für die unsichtbare Belegschaft in der Gastronomie braucht es deutlich bessere Bedingungen. Es fehlt an Initiativen, die sich für die Bedürfnisse und Rechte der Branche in einem größeren Rahmen einsetzen. Die aktuell getroffenen Maßnahmen sind für die hiesige Gastronomie doch gar nicht schnell genug. Wer soll denn noch mehr Kredite aufnehmen können? Das können die meisten doch gar nicht.
Einige meiner Berliner Kunden sind in schreckliche, von Vermietern hervorgerufene Situationen gekommen. Von der manchmal aufs Drei- bis Vierfache erhöhten Miete über das aktive Anwerben neuer Mieter, die mehr bezahlen können bis zur Kündigung von Verträgen bereits nach drei oder sechs Monaten unter Beibehaltung der Mietzahlung. In der jetzigen Krise stehen einige dieser Mieter-Vermieter-Beziehungen, die schon vorher angespannt waren, vor einer ungewissen Zukunft, ohne Verpflichtungen oder Schutz für Mieter. Da ich Kunden in anderen Ländern habe, sehe ich sehr deutlich, welchen Unterschied Mietsicherheit für ein Gastronomie-Unternehmen macht – in einer Branche mit kleinen Gewinnspannen und saisonal schwankenden Einnahmen. Obwohl viele in Berlin mit solchen Konsequenzen konfrontiert sind, scheint es keinen politischen Schutz zu geben, vielmehr ein völliges Gefühl der Apathie gegenüber diesem Schlüsselthema.
Man hört und liest ständig von Gastronomie-Betrieben, die vom Rauswurf bedroht sind. Bei uns gibt es kein „hire and fire“ auf personeller Ebene, wie etwa in den USA, aber auf Ebene der Flächen.
Dies ist ein strukturelles Problem, das bereits vor der Krise existierte und auch danach existieren wird. Es gibt so viele Betriebe, die aus diesem Grund schließen müssen, während private Mieter wesentlich mehr Rechte besitzen.
Der Berliner Mietendeckel etwa greift gewerblich überhaupt nicht. Gewerbemietrecht ist Bundesrecht – weswegen zum Beispiel die Linkspartei, die sich wenigstens für eine stärkere Regulierung dieser Mieten einsetzt, auf lokaler Ebene nichts bewirken kann. Obwohl sie mit in der Berliner Regierung sitzt. Du wohnst ja – wenn du nicht gerade in Berlin festsitzt – in Schweden. Von dort hören wir ja, dass man recht relaxt mit der Corona-Situation umgeht. Kannst du uns ein paar Einblicke geben, bitte?
Ich habe mit einigen Kunden in Schweden gesprochen. Sie sind offensichtlich nicht mit einer Einschränkung des täglichen Geschäfts wie hier in Deutschland konfrontiert. Ob dies bei der Bekämpfung des Virus wirksamer ist, können wir nicht sagen. Aber: Im Fall eines Shutdowns genießen sie wesentlich mehr Schutz. Die schwedischen Gewerbeimmobilien-Gesetze gestehen Mietern einen größeren Rückgriff auf eine Gerichtsverhandlung zu, falls der Vermieter die Miete erhöhen oder den Mietvertrag kündigen möchte. Bevor es dazu überhaupt kommt, bietet die Vertragsgestaltung viel mehr Spielraum für faire Konditionen für Mieter, etwa die Bindung an den Mietspiegel. Es gibt auch strengere Vorschriften für die Untervermietung, die in Berlin von Vermietern häufig missbräuchlich verwendet wird. Und darüber hinaus werden die Mieter durch ein als indirektes Eigentumsrecht bezeichnetes Recht, das „indirekt besittningsskydd“, zusätzlich geschützt.
Was verbirgt sich dahinter?
Dieses indirekte Besitzrecht hält den Vermieter zur Verlängerung des Mietvertrags an. Es besteht tatsächlich aus zwei Rechten. Das erste ist ein Recht auf Vergütung: Wenn der Vermieter sich weigert, den Vertrag zu verlängern, hat der Mieter grundsätzlich Anspruch auf Entschädigung. Und möglicherweise auch – das wird gerichtlich geklärt – wenn die Miete unangemessen hoch steigt. Das zweite Recht gewährt ihm bei Kündigung einen Antrag auf Aufenthaltsrecht in den Räumlichkeiten von bis zu zwei weiteren Jahren. Solche Gesetze würden es den Geschäftsinhabern in Berlin ermöglichen, nicht nur in Krisenzeiten wie jetzt, viel stärkere Verhandlungspositionen einzunehmen.
Und wie sieht es arbeitsrechtlich für Angestellte aus in Schweden?
Aufgrund der Strukturierung der Beschäftigungsformen können Arbeitgeber*innen leichter private und/oder öffentliche Versicherungen für Arbeitnehmer*innen abschließen. Dies bedeutet, dass selbst die flexibelsten Mitarbeitenden aufgrund ihrer Verträge immer ans Unternehmen gebunden sind und in einem Krisenfalls abgesichert sind. Sowohl Arbeitnehmer*innen als auch Arbeitgeber*innen in Berlin mit flexiblen Jobs würden von solchen Arbeitsvereinbarungen, die auch für die Gastronomie gelten, stark profitieren. Dies würde Schwarzarbeit erheblich senken, gut für beide Seiten, und es Arbeitnehmer*innen, die in mehr als einem Outlet arbeiten wollen, ermöglichen, nicht nur als Freiberufler*innen auf Events oder Festivals arbeiten zu können. Arbeitgeber*innen böte es mehr Sicherheit und Kapazität bei der Personalplanung.
Wie wird die Gastronomie in Berlin 2021 aussehen?
Die Landschaft wird sich zu 100 Prozent verändern und ich fürchte, dass es viele Betriebe geben wird, die die Krise leider nicht überleben. Manche können drei, vier Monate Lockdown einfach nicht durchhalten – nicht unter den gegebenen politischen Bedingungen. Aber natürlich entstehen auch Chancen. Eine Hinwendung zu dem, was Gastronomie wirklich bedeutet, mehr Professionalität, mehr Performance. Aber auch mehr Kreativität innerhalb der Speisen, kleine Innovationen, die sich auch daraus ergeben, dass man noch mehr auf die Kosten schauen muss, aber Qualität bewahren will. In Berlin haben viele Outlets ein hohes Kundenvolumen und eine anstrengende Arbeitsbelastung – und in den meisten Gastronomieunternehmen stehen die Besitzer immer noch täglich im Geschäft. Daher bietet sich oft nie die Möglichkeit, etwas Neues auszuprobieren oder lang benötigte Infrastrukturänderungen zu implementieren. Jetzt könnte es an der Zeit sein, Betriebsabläufe und Kosten zu analysieren, Protokolle zu standardisieren, um genauere Messwerte und/oder Prognosen zu erhalten, oder in vielen Fällen die Entwicklung von Speisen zu vereinfachen.
Nämlich wie?
Je einfacher ein Prozess ist, desto leichter ist es, ihn zu skalieren und zu trainieren. Für einige Unternehmen ist es möglicherweise an der Zeit, sich darauf zu konzentrieren. Für ein Gastronomie-Business kann es langfristig Einsparungen in Höhe von Tausenden Euro bedeuten. Wenn es um Lebensmittel selbst geht: Not macht erfinderisch. Und in einer Stadt, die plötzlich mit einem Produkt- und Zutatenmangel und einem neuen Servicestil konfrontiert ist – hier ist die Möglichkeit, Konzepte anzupassen, um die Effizienz zu steigern und die Marke neu zu definieren, sicherlich da. Die Regierung hat kürzlich einen Corona-Zuschuss in Höhe von 4.000 Euro für kleine Unternehmen angekündigt, um Berater engagieren zu können (und sogar ohne Eigenanteil, Anm. d. Red.). Dies ist eine großartige Chance für Geschäftsinhaber, auf professionelle Unterstützung zuzugreifen, um sich bei der Strategieentwicklung und Durchführung dieser Änderungen helfen zu lassen. Einige Berliner Kleinunternehmen haben diese Änderungen bereits in Angriff genommen und beweisen Einfallsreichtum, Kreativität und Gemeinschaftlichkeit. Ich hoffe sehr, dass die ganzen großartigen Unternehmen und Menschen dahinter diese Krise überstehen, sich an die neue Post-Corona-Normalität anpassen können und in der Lage sind, zu prosperieren.
Vielen Dank, Kate.
Mit ihrer Hospo Hotline bietet Kate Bailey Gastronomie-Betrieben in Schwierigkeiten kurzfristige und schnelle Hilfe an. Längerfristige Beratung für Branchenbetriebe macht sie mit ihrem Unternehmen Hand and Heart.
Beim Feminist Food Club sprach sie darüber, wie sich in Krisensituationen Konzepte schaffen und anpassen lassen. Eine Mitschrift des Talks und ein Video gibt es hier.