Beim Thema Künstliche Intelligenz denkt man meist an Industrie, Medizin und Wissenschaft – an die Gastronomie bislang eher selten. Doch KI wird auf kurz oder lang auch hier Einzug halten. Schon jetzt tummeln sich innovative, manchmal nerdig wirkende, beim genauen Hinschauen aber interessante Lösungen auf dem Markt. Ein erster Blick in eine Welt, die uns zukünftig sicher mehr beschäftigen wird.
Wie spürt man eigentlich Food- und Gastrotrends auf? Bisher zum Beispiel durch das Durchstöbern von Instagram, Facebook oder auch Pinterest, durch Reisen und Touren, zufällig oder – selbstverständlich – durch das aufmerksame Lesen gastronomischer Fachzeitschriften. Diese Methode wird wohl auch in Zukunft fort bestehen. Aber es kann sehr gut sein, dass sie ergänzt wird. Zum Beispiel durch jemanden, der sämtliche Speisekarten liest, Muster erkennt und den Gastronomen informiert: Speise XY taucht in deiner Region immer häufiger auf. Vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt, sie ebenfalls anzubieten?
Diesen Jemand gibt es, er „lebt“ im israelischen Tel Aviv und nennt sich Tastewise. Das Tech-Startup hat eine Software entwickelt, welche die online veröffentlichten Speisekarten gastronomischer Objekte vom Sternerestaurant über Foodtrucks bis zu Fastfoodbetrieben liest, Veränderungen und neue Produkte identifiziert und zusätzlich auch das Dickicht sozialer Netzwerke und von Bewertungsplattformen durchforstet. Allein in den USA, so berichten Hendrik Haase und Olaf Deininger in ihrem Buch Foodcode, würden so wöchentlich rund 200.000 Speisekarten und über 13 Millionen Gerichte ausgewertet.
Doch nicht nur das: Zusätzlich kann der Algorithmus von „Tastewise“, ein typisches KI-Kriterium, auch lernen und z.B. so genannte Sentimente immer besser „verstehen“. Etwa ein Bild einer Speise, unter dem sich Emojis oder positive bzw. negative Kommentare befinden: Was gefällt den Gästen/Nutzern, was nicht? „Damit ist man nicht nur in der Lage, die Daten inhaltlich korrekt zu interpretieren, man kann auch die Verbreitung und Weiterentwicklung von Trends wie z.B. den Veganismus frühzeitig erkennen“, schreiben die Autoren. Veganismus ist per se zwar nicht mehr neu, aber: Wie stark ist er in meiner Region, meiner Stadt, meinem Viertel schon gastronomisch ausgeprägt? Und überhaupt: Welches Food „trendet“ gerade in meinem (Wettbewerbs-)Umfeld? Oder in Szenevierteln der Metropolen, ist da gerade etwas wortwörtlich am Köcheln, das ich als „early adopter“ auch bei mir einführen kann? „Blended burger“ zum Beispiel, die Fleischliches und Pflanzliches mixen? Oder Hard Kombucha mit Alkohol? „Tastewise“, so Haase und Deininger, könne sich zum wertvollen Partner für die Gastronomie entwickeln, weil es eine „noch nicht entdeckte Nachfrage“ zu erkennen vermag.
KI ist Entscheidungs(ge)hilfe, nicht Entscheider
„Tastewise“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie Künstliche Intelligenz der Gastronomie dienlich sein kann: Als Unterstützung und als Ergänzung, nicht als Ersatz. „Tastewise“ macht eine enorme Fleißarbeit – hunderttausende Speisekarten lesen – und ist in der Lage, daraus gewisse Schlüsse zu ziehen. Doch was dann damit passiert, die Kreativität und das Handwerk, bleiben dabei bis auf Weiteres dem Menschen vorbehalten. Sprich: Was er mit der Information anfängt, zum Beispiel eine der Software zufolge trendende Speise einfach selbst anzubieten, eine Eigeninterpretation (an der Bar würde man sagen: einen Twist) oder eine den Trend weiterdenkende Neukreation, das ist seine Entscheidung.
Ganz ähnlich verhält es sich mit Delicious Data, einer digitalen Lösung aus München, die für die Gastronomie, Bäckereien sowie Kantinen entwickelt worden ist. Die Idee ist, mittels Daten und daraus abgeleiteter Prognosen besser planen zu können, wie viel Absatz in den kommenden Öffnungstagen erzielt wird und somit, wie viel Ware, aber auch wie viel Personal benötigt wird. Dafür sammelt und interpretiert die KI große Datenmengen, u.a. von Verbrauchsmengen in der Vergangenheit zu spezifischen Zeitpunkten (z.B. Vorjahrestag), aber auch aktuellen Faktoren – Wetter, Feier- und Brückentage usw.
Auf Basis dieser Auswertungen können Küche und Küchenleitung, Beschaffung und andere Bereiche operative Entscheidungen fällen, Bedarfsmengen anpassen, die Wareneinsatzquote kontrollieren oder Upselling für bestimmte Produkte betreiben. Der Prognosehorizont reicht dabei bis zu sechs Wochen in die Zukunft, was den Einkauf und die Personaleinsatzplanung verbessern helfen soll. Es will per „Intraday Forecast“ aber auch dabei unterstützen, die Frage „sollen wir nochmal was nachlegen“ richtig zu beantworten, sodass am Ende bestenfalls nichts übrig bleibt. Und nicht nur Lebensmittelabfälle vermieden, sondern auch Kosten eingespart werden.
Die Kamera, die in den Müll schaut
Das Ziel, Essensabfälle per Künstlicher Intelligenz zu verringern, haben sich auch das Schweizer Unternehmen Kitro und Winnow aus England auf die Fahnen geschrieben. Beide haben dabei Systeme entwickelt, die dem Mülleimer in der Gastronomie sozusagen aufs Maul schauen. Bei den Briten sorgt „Visions“, ein System aus Abfallbehälter mit Waage und Tablet mit bewegungssensitiver Kamera dafür, dass das Weggeworfene je Sorte gewogen und bemessen wird. Landen zum Beispiel Tomaten im Müll, gibt der Mitarbeiter wie an der Gemüsewaage im Supermarkt den Artikel ein, „Winnow Vision“ berechnet die Kosten. KI-typisch ist das System lernfähig und erkennt nach einer Trainingsphase das Weggeworfene selbst. Eine Senkung des Wareneinsatzes von bis zu acht Prozent sei damit drin, so das Unternehmen.
„Kitro“, initiiert von Naomi MacKenzie und Anastasia Hofmann, zwei Gastro-Praktikerinnen und Absolventinnen der bekannten Hotelfachschule in Lausanne, funktioniert ganz ähnlich: Eine auf den Müllbehälter mit Waage aufgesetzte Kamera schaut dem Team quasi den ganzen Tag dabei zu, was es wegwirft – um daraus detaillierte Berichte seiner Messungen zu erstellen. „Allerdings führt die Messung allein noch nicht zu Ergebnissen“, betont man auch hier die Notwendigkeit des Faktors Mensch.
Eine digitale Instrumententafel, neudeutsch Dashboard, gibt es hier wie auch bei allen anderen KI-Tools. Auf ihm werden die Ergebnisse angezeigt, per Eingabe zusätzlicher Informationen lässt sich eine individuelle Analyse vornehmen und schließlich eine Anpassung vornehmen (etwa den Wareneinsatz reduzieren, vorbereiten, lagern und bedarfsgerechter regenerieren oder Produkte austauschen). Müll zu messen, ist einer der entscheidenden Stellschrauben für mehr Nachhaltigkeit in der Gastronomie – ökologisch wie ökonomisch.
Kochroboter – nun also doch?
Das Personalproblem ist seit Corona noch einmal dramatischer geworden, der Nachwuchs u.a. im Bereich Koch/Köchin wird händeringend gesucht. Hierbei haben wir es mit einem systemischen Problem zu tun, das auf vielen Ebenen, von der modernisierten Ausbildung bis zu attraktiveren Arbeitsbedingungen, gelöst werden muss. Auch hier bietet Künstliche Intelligenz bzw. Automatisierung Ansatzpunkte. Aitme aus Berlin zum Beispiel, ein Startup aus Berlin.
Einer der Gründer, Emanuel Pallua, war Co-Founder des mittlerweile eingestellten Lieferdiensts „Foodora“. Jetzt will er Küchen revolutionieren und Maschinen kochen lassen: Mit dem „robotic chef“ haben er und sein Team ein Gerät gebaut, das aussieht wie ein Mix aus überdimensionalem Brutkasten und unterdimensionaler Autoproduktionsstraße. Zwei Roboterarme bedienen sich aus mehreren Zutaten und stellen daraus frische Bowls her, die „Miso Basil Tofu“ oder „Smokey Chipotle“ heißen. Die Kreationen und Kombinationen lassen sich, Bowl eben, ins Unendliche treiben, 120 Gerichte schafft der Roboterkoch und braucht für keines länger als fünf Minuten.
Auf 40 bringt es der Mitbewerber Da Vinci Kitchen, der sich auf die automatisierte Zubereitung von Pastagerichten spezialisiert hat. Der kioskartige Aufbau hat u.a. eine Nudelmaschine und einen Nudelkocher, Kühlvitrinen und eine „serving section“ an Bord und will die Systemgastronomie revolutionieren, während es „Aitme“ auf Kantinen abgesehen hat.
Der Koch als „culinary creator“ dank KI?
Ob solche Gerätschaften oder ähnliche wie von Moley Robotics oder Chowbotics auch in einem inhabergeführten Restaurant Einsatz finden werden? Wir werden es sehen. Vielleicht ist es ja eine Option mit Hinblick auf die sinkende Attraktivität des Kochberufs, sich als „culinary creator“ auf die Produktneuentwicklung, Verfeinerung und das Finishing konzentrieren zu können, während der nimmermüde Roboter (als Assistent des Menschen auch „cobot“ genannt) die immergleichen Handgriffe erledigt?
Der Studie FutureHotel – Employee Profiles zufolge, die das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) kürzlich publizierte, beläuft sich das Automatisierungspotential in der Küche durch KI auf exakt 50 Prozent: Während Produktionsabläufe zunehmend von Maschinen durchgeführt werden und Algorithmen bei der Zusammenstellung von Speiseplänen, Einkauf/Beschaffung und Kalkulation unterstützen, rücken die Köche, so die Ableitung der Studie, näher an den Gast – z.B. durch Kochen am Tisch und mit dem Gast. Gleichzeitig lasse sich „stärker der Bezug der Ware zelebrieren“, wenn anderswo Zeit eingespart wird. Etwa durch Indoor-Farming oder Beziehungspflege mit wichtigen Zulieferern, sprich einem Besuch auf dem Hof und dem Feld. Klingt doch gar nicht so schlecht.
Dieser Beitrag erschien zuerst in fizzz 9/2021.