
Prägen mit ihren Konzepten seit 15 Jahren die Hauptstadt: Nadine und Tom Michelberger. Foto: Unternehmen
Mit großer Vision und ebenso großer Naivität eröffneten Nadine und Tom Michelberger 2009 ihr Hotel an der Warschauer Straße. Es ist immer noch da, und wie: Über 15 Jahre sind zwei externe Restaurants, eine Farm mit Gasthaus und eine Spirituosenmanufaktur hinzugekommen. Welches Verständnis von Führung, Verantwortung und Gastfreundschaft haben die beiden?
Wie wird normalerweise ein Hotel geplant? Vermutlich nicht so, wie es Nadine und Tom Michelberger in der zweiten Hälfte der Nullerjahre getan haben, nämlich mit Skizzen, Notizen und Bildern an der Zimmerwand in Toms damaliger Wohnung. Doch den beiden schwebte damals ja auch nicht ein Hotel gängigen Konzepts vor. „Wir haben eigentlich nie in Konzepten gedacht. Wir haben uns auch keine anderen Hotels zum Vergleich angeschaut. Wir haben hier Räume vorgefunden und uns überlegt: Was können wir daraus Tolles machen? Wie würden wir übernachten wollen?“
„Wir wussten nicht, wie man ein Hotel macht“
Das Hier, das er meint, ist ein ehemaliger Bürogebäudekomplex an der Warschauer Straße. Seit 2009 befindet sich hier das Michelberger Hotel. Genau genommen ging der Betrieb sogar schon im Jahr davor los – während der umfangreichen Entkernungs- und Umbauphase nämlich betrieb man im Keller des Hauses schon einen Club. Tagsüber flogen alte Teppiche auf den Hof, nachts wurde unten gefeiert – mit Partys kannten sich die beiden aus, Nadine hatte zuvor selbst welche in der Stadt mit organisiert, Tom hatte neben dem Studium in Bars gearbeitet. „Wir wussten damals ja nicht, wie man ein Hotel sonst so macht. Wir haben es mit wenigen finanziellen Mitteln gestemmt.“ In der intensivsten Bauphase waren 200 Leute gleichzeitig auf der Baustelle. Ohne Bauleitung: Tom und Nadine leiteten den Prozess. „Mit großer Vision, aber auch mit großer Naivität, die das Ganze überhaupt ermöglicht hat.“
Ein modernes Familienhotel
Ursprünglich kommen beide vom Dorf und haben landwirtschaftlichem Hintergrund. Diese Prägung wollten sie in ihr sehr urbanes Hotelprojekt einbringen: „Es war klar für uns, dass wir hier etwas Gastgebendes und Handgemachtes tun wollen. Etwas eigenes herstellen, so wie man es auf dem Bauernhof lernt“, so Nadine. „Und eigentlich ist Michelberger keine neue Idee. Wir haben das Hotel wieder dorthin gebracht, wo es mal war: ein modernes Familienhotel, ein Ort, der jeden Tag neue Leute hereinbringt.“ Gastgebend, handgemacht, familiär – so ist es hier tatsächlich, damals wie heute. Das beginnt der offenen, großen Lobby, Lounges vorne, die lange Bar hinten. Ein Ort, an dem sich nicht nur Hotelgäste, sondern auch „locals“ gerne aufhalten und treffen. Heute will fast jedes Hotel offen für die Stadtbewohner sein und so eine Lobby haben, was mal besser, mal weniger gut gelingt. 2009 war man damit ein absoluter Vorreiter.
Anti-Drehtür-Effekt
Wozu – kleines, aber wichtiges Detail – auch die Eingangstür beitragen dürfte: „Wir wollten uns in die Nachbarschaft integrieren und deshalb keine Drehtür“, erinnert sich Nadine. Der Architekt habe das erst nicht verstanden: Eine Hotel braucht doch unbedingt eine Drehtür! Am Ende wurde es eine ganz normale. Effekt: „Sehr viele Leute, die zu uns in die Lobby kamen, haben gar nicht gemerkt, dass wir auch ein Hotel sind, manche über Monate nicht“, so Nadine schmunzelnd. „Es ist kein exklusiver, sondern ein inklusiver Ort: Das war uns bei den öffentlichen Räumen ebenso wichtig wie bei den Zimmern. Niemand soll denken, er passe hier nicht rein oder dass er zu wenig Geld für uns hat“, fügt Tom hinzu. „Man soll sich hier so hinsetzen, wie man ist. Wir haben auch nicht die tollsten (wenngleich cool designten, Anm. d. Red.) und nicht die größten Zimmer, aber wir sind für unsere Gäste das Tor zu Berlin und geben ihnen Empfehlungen, wohin sie gehen können.“
Gastronomie und Getränkeherstellung
Michelberger ist selbst Teil des gastronomischen Berlin. Das Restaurant Michelberger ist eine der besten Adressen für regional-saisonale Küche und hat zum Dinner, zum Lunch und zum sehr beliebten Brunch ein vorzügliches Angebot. Einen Teil der hier verarbeiteten Produkte beziehen die Küchenchefs Alan Micks und Andreas Rieger frisch aus dem „Nahrungswald“ auf der eigenen Michelberger Farm. Die erwarb man 2018 in Vetschau im Spreewald, seit 2023 ist sie nach Umbau auch ein kleines Gasthaus für bis zu 25 Personen. 2020 bereits übernahm man das Restaurant Ora in Kreuzberg (Vertragsunterzeichnung wenige Tage vor dem Lockdown). 2024 kam im Wedding die Theke hinzu, ein kleines Bistrokonzept im Verkaufsladen der altehrwürdigen „Preussischen Spirituosenmanufaktur“, welche man 2022 vor der Pleite retten konnte. Als MXPSM wird sie nun weitergeführt und die Palette der Produkte wird ausgebaut. Schon 2012 hatte Michelberger ein eigenes Getränk auf den Markt gebracht, das „Fountain of Youth“-Kokoswasser in der handelsunüblichen 520-Milliliter-Dose. Das Coconut-Water gibt es immer noch, sogar international.

Die Lobby des Hotels. Foto: Michelberger

Das Restaurant Michelberger. Foto: Michelberger

Restaurant Ora in Kreuzberg. Foto: Zoe Spawton

Michelberger Farm. Foto: Sigurd Larsen

Die Theke im Wedding. Foto: Michelberger
Blick in die Pyramide
160 Personen arbeiten mittlerweile in den verschiedenen Unternehmungen, davon rund 120 im Hotel, das circa 500 Gäste am Tag frequentieren. Eine gewisse „Wuseligkeit“ sei wichtig: „Durch die Vielschichtigkeit an Erfahrungen geben wir den Gästen das Gefühl, an einem besonderen, lebendigen Ort zu sein, der jeden Tag ein bisschen anders ist“, so Tom Michelberger. Er benutzt das Bild einer Pyramide, in die man von oben hineinblickt: Wer „nur“ übernachten will, sieht „nur“ die Spitze. Auch gut. Wer aber Lust und Interesse hat, tiefer hinein zu blicken, wird hier jede Menge Entdeckungen machen können, etwa das „Forest Cinema“ im fünften Stock mit handverlesenen Filmen, Kundalini-Yoga und angeleitete Meditation oder regelmäßige Livemusik in der Lobby. Räume zum Arbeiten, Begegnen, Veranstalten und natürlich die externen Restaurants und Locations.
Keine Hoteldirektoren
Dass es die Menschen sind, die im „Michelberger“ mitarbeiten, die all dies möglich machen, ist wohl keine Überraschung. Aber dann wiederum doch, bedenkt man, wie hierarchisch Hotels normalerweise aufgebaut sind. Als wir fragen, ob sie sich als Hoteldirektoren sehen, schütteln die Michelbergers deutlich die Köpfe. „Wir sind auf keinen Fall Hoteldirektoren“, stellt Nadine klar. „Wir haben schon sehr früh unseren Wunsch an die Mitarbeitenden herangetragen: Ihr macht das Hotel jeden Tag zu dem, was es ist.“ „Es sollte immer eine Plattform sein. Wir geben eine strategische Ausrichtung vor. Doch darüber hinaus versuchen wir, allen Mitarbeitenden neben einer Wertschätzung für ihre Arbeit auch einen maximalen Gestaltungsrahmen zu geben“, fügt Tom hinzu.
Was durchaus eine Herausforderung sei: Freiraum für Gestaltung und Entfaltung bedinge Professionalität in den Strukturen. Tom: „Sonst können wir diese Leichtigkeit, die unsere Gäste erleben, nicht herstellen.“ Beispiel Lebensmittel: Früher wurden Reste einfach von einzelnen Mitarbeitenden mit nach Hause genommen – logischerweise jenen, die direkten Zugang zu ihnen haben. Heute werden sie für das gesamte Team zugänglich gemacht, indem sie zu Speisen für die Mitarbeiterkantine weiterverarbeitet werden. So entsteht auch ein gemeinschaftlicheres Handeln und ein Blick über die eigene Abteilung hinaus..
Loslassen lernen
Die Abteilungen bestehen aus Teams von 12 bis 15 Personen, geführt von meist lange im Unternehmen tätigen Personen. „Wir sind für alle Mitarbeitenden ansprechbar, wenn es Redebedarf gibt“, erklärt Nadine. Gleichzeitig leiste man seit rund einem Jahr nur noch „entwickelnd und ergänzend“ seinen Beitrag, ergänzt Tom. Oft gehen die beiden gemeinsam in Besprechungen der Teams, hören zu, geben Input, lassen dann aber auch wieder los und geben Verantwortung an die Gruppen ab. „Das müssen wir allein wegen der vielen unterschiedlichen Orte tun. Für uns war das ein großer und wichtiger Entwicklungsschritt“, erklärt Tom. So entstand neuer Freiraum für die beiden Nicht-Hoteldirektoren: So selten wie heute seien sie noch nie in Meetings gewesen, erklären sie. Mehr Raum für neue Ideen.
Hunger auf Leichtigkeit
Was treibt die beiden nach 15 Jahren immer noch an? „Unserer innerer Kompass, unsere Entwicklung. Sie hat sich durch die vielen Begegnungen verfeinert“, erklärt Nadine. „Und das, woher wir kommen, was uns wichtig ist: Respekt vor jedem Einzelnen und vor den Gütern, die hier verarbeitet werden.“„Unser Hotel ist ein kleines Dorf. Wir versorgen 500 Leute jeden Tag mit unserer Bäckerei, unserem Restaurant, unserem Wohnzimmer“, ergänzt Tom. Und nach auch für ein „Michelberger Hotel“ nicht immer einfachen (post)pandemischen Jahren blickt man sehr zuversichtlich in die Zukunft: „Es geht jetzt dorthin zurück, wo wir begonnen haben: Die Leute sind wieder hungrig nach Leichtigkeit. Sie haben Lust, in ein Abenteuer hineinzugehen.“ Das erwartet sie hier, jeden Tag aufs Neue. Einfach durch die Tür gehen.