Naturwein, Vin Naturel, Orange Wine – drei Begriffe, ein Thema: Wein aus biodynamischer Herstellung und mit besonderem Geschmack erreicht langsam, aber sicher den deutschen Markt. Und somit auch die Gastronomie. In Berlin haben 2016 mehrere Naturweinbars eröffnet. Wie funktionieren sie, was ist anders als in der klassischen Weinbar?
Das kann man ja wirklich schon als Kulturvermittlung bezeichnen: Deutsches Bier und Currywurst verkauften Julia Giese und Etienne Dodet von 2009 bis 2015 in der „Udo Bar“ mitten in Paris. Sogar der „Tatort“ wurde sonntags gezeigt. „Uns wurde immer gesagt: Ihr habt eine sehr Berliner Bar“, erzählt Julia lachend. Jetzt haben die beiden tatsächlich eine Berliner Bar, denn seit Frühjahr 2016 betreiben die beiden das „Jaja“ in der Weichselstraße in Neukölln. „Exposed brick“, minimalistisches Interieur, vom Hahn wird Craft-Bier von „Heidenpeters“ gezapft. Sehr Berlin in der Tat.
Aber eine Sache ist dann doch ganz anders: Auf einem Regalbrett, das sich durch die gesamte Location zieht, stehen viele, viele Weinflaschen. Flaschen mit Etiketten darauf, die sich von klassischen Weinetiketten – man denke an Gütesiegel, Familienwappen und barocke Schriftzüge – doch ziemlich abweichen. Es sieht mitunter eher nach Graffiti, Street-Art oder spontaner Selbstetikettierung aus. Im „Jaja“ (50 Quadratmeter, 26 Plätze drinnen plus Terrassenplätze) dreht sich alles um das Thema Naturwein. Um „Vin Naturel“, wie die Franzosen sagen („Orange Wine“ ist wiederum der englischsprachige Begriff).
Im Prinzip geht es weiter mit der Kulturvermittlung: Wurde den Franzosen deutsches Bier schmackhaft gemacht, geht es jetzt darum, den Deutschen den in Frankreich, speziell in Paris, beliebten Naturwein an Zunge, Gaumen und Herz zu führen. Und das in einem entspannten Ambiente, das sich von traditionellen Weinbars, in deren Flair nicht selten etwas Elitäres, Prestige- und Wissensträchtiges mitschwingt, unterscheidet.
Naturwein: anderes Geschmackserlebnis, andere Haltung
Was gut zum Kiez und gut zum Naturwein passt, denn bei dem geht es ein Stück weit auch darum, Weinkonventionen in den Allerwertesten zu treten. Naturwein, das ist – in aller Kürze definiert – Wein, der nach biodynamischem Prinzip hergestellt wird. Heißt: Es dürfen keine Schutzmittel in die Weinberge gebracht werden.
Mit herkömmlichem Biowein, der es bis in die Supermarktregale geschafft hat, hat das aber nur bis zu diesem Punkt etwas zu tun, denn auch im Keller lassen die Naturwinzer den Wein weitestgehend unberührt: Auf Reinzuchthefen wird gerne verzichtet, stattdessen auf Spontanvergärung gesetzt, die Weine werden nicht oder nur sehr wenig geschwefelt. Was in Summe zur Folge hat, dass die Weine „weiterleben“ und oft sehr eigentümliche, aus dem tradierten Geschmackskanon klassischer Weine heraus tönende Profile entwickeln – säuerlich, mit deutlichen Fermentationsnoten, oft fruchtarm, mitunter aufgrund des Weitergärens ordentlich moussierend. Kurz: ein bisweilen sehr ungewöhnliches Geschmackserlebnis, aber nicht immer – die aromatische Spannbreite bei den Naturweinen reicht von nahezu konventionell und fruchtig bis zu funky-sauerkrautig.
Jaja Berlin: Probieren geht über erklären
Welches Getränk fällt uns da ein, von dem es seit einiger Zeit vermehrt Ausführungen gibt, die das Geschmacksspektrum ausweiten und den Konsumenten/Gast herausfordern, irritieren, begeistern? Natürlich: Craft-Bier. Teilen das besondere Bier und der besondere Wein auf Herstellungsebene eher wenig (beim Naturwein wird möglichst viel weggelassen, beim Craft-Bier wird mitunter gehopft und gestopft, was das Zeug hält), so teilen sie aus Perspektive des Gastes doch einen wichtigen Punkt: Sie müssen ihm, ist er nicht gerade ein Kenner, sehr genau erklärt werden. Was ist der Unterschied? Wie schmeckt das und warum? Warum ist es teurer?
Auf der verbalen Ebene sei es nicht immer leicht, unkundigen Gästen den Unterschied zwischen Bio- und Naturwein plausibel zu machen, weiß Julia Giese zu berichten. Deswegen dürfe jeder Gast von allen offenen Weinen probieren – vier weiße und vier rote habe man praktisch immer offen. „Dann gibt es oft ein Aha-Erlebnis“, erzählt sie. Auf den Flaschen stehen zwei Preise – einer für den Außer-Haus-Verkauf (auch andere Berliner Gastronomien wie das „Hotel Michelberger“ kaufen bei „Jaja“ Naturwein) und ein weiterer für den Verzehr vor Ort. Das Preisbild, so Giese, habe man für Naturwein-Verhältnisse sehr günstig gestaltet, um Neulinge nicht abzuschrecken: „Kenner finden unsere Preise günstig, Nichtkenner vergleichen es mit dem Drei-Euro-Biowein im Supermarkt“, erklärt sie.
Ein Spagat, den man machen muss – auf der einen Seite will Naturwein das Thema Wein demokratisieren, seinen Konsum zwangloser machen und seinen Genuss frei von Konventionen, auf der anderen Seite sind die Produktionsbedingungen, bei denen dem Winzer aufgrund des Weglassens von Schutzmitteln immer auch ein Teil- oder Kompletternteverlust droht, bei denen nur kleine Mengen entstehen und sich kaum skalieren lässt, hart – eine Flasche für drei Euro lässt sich nicht darstellen. Zudem fängt jetzt ein Koch im „Jaja“ an, denn mit nur Käse, Aufschnitt und Sardinen zum Wein wie in Pariser Naturwein-Bars üblich, so die Erkenntnis der ersten Monate, komme man nicht weit – viele Gäste fragen nach warmem Essen. Ein nicht unwesentlicher Teil der Arbeit des „Jaja“-Duos besteht darin, zu den Winzern zu fahren, sie kennen zu lernen und ihre Weine direkt zu importieren – man will den Gästen auch sagen können, wer der Mensch ist, der hinter dem Erzeugnis steht. Kulturvermittlung aus Liebe zum Produkt.
Fermentierter Traubensaft im „Wild Things“
Den Menschen hinter dem Produkt schreibt man auch im „Wild Things“ groß, der zweiten Naturwein-Bar im Kiez, nur ein paar Laufmeter vom „Jaja“ entfernt: Paul Reder, Daniele Portinari, Steffan Vetter – bevor die Weine und ihre Preise in Flasche und Glas genannt werden, fällt erst einmal der Name des Schöpfers. Genauer: wird zuerst auf der Karte genannt in der gedruckten Auswahl der insgesamt 150 Positionen. Drei Dinge, so erklärt „Wild Things“-Sommelier Sebastién, müsse der Service jedem Gast mitteilen können: Wer den Wein gemacht hat (und wo), wie die Komposition der Trauben ist und welche Geschmacksrichtung der Saft hat. Er sagt tatsächlich Saft, in der Naturwein-Szene wird oft von Saft oder Traubensaft statt von Wein gesprochen. „Es ist fermentierter Traubensaft, ganz einfach“, so der Sommelier, der zuvor lange Zeit als Einkäufer für Naturwein in Paris gearbeitet hat.
„Wir sind sehr zufrieden mit der Entwicklung der Bar“, sagt sein Chef Oscar Bernal, der wie sein Businesspartner Ramses Manneck („Industry Standard“) Mexikaner ist – in den hinteren Räumen des „Wild Things“ eröffnet man in Kürze ein Mezcal-Speakeasy. Montags sei der Laden voller Gastronomen, die frei haben, ab Donnerstag beginnt das Wochenende in Neukölln. Weil man zu den Weinen ein umfangreiches Food-Angebot in Tapas-Größen offeriert – vom Furikake-Popcorn über Charcuterie, Oktopus-Salat und Ceviche nach Fiji-Art mit Kokosmilch bis zum Beef Tartare – erziele man Durchschnittsbons jenseits der dreißig Euro. Bis 22 Uhr liegt der F&B-Anteil bei 70:30, der Wein folgt dabei meist als Empfehlung durch den Service dem gastseitig gewählten Food, danach dreht es sich komplett zum Wein hin.
Der Einstiegspreis für ein Glas (0,15l) ist immerhin fünf Euro – drunter lässt es sich nicht kalkulieren –, auch über zehn kann ein Glas im „Wild Things“ kosten. Weswegen viele Gäste den Naturwein flaschenweise bestellen und – wie das Essen – teilen und gemeinsam genießen. „Dann kann man mit 30, 40 Euro schon einige Stunden Spaß bei uns haben“, so Bernal. Und darum gehe es vor allem: Wein unkompliziert, unprätentiös, ohne mitgebrachtes Wissen genießen können.
Es fehlt noch an Vertriebsstrukturen
„Das Potential für Naturwein ist groß“, findet Sommelier Sebastién. Er kann sich gut vorstellen, das bald viele Restaurants in Berlin und anderswo in Deutschland neben konventionellen Weinen auch ein, zwei, drei Naturwein-Referenzen listen, wenn sich der Traubensaft erst einmal herumgesprochen hat. Allein die Tatsache, dass der Markt klein ist und es an Distributionsstrukturen mangele – nur wenige Händler wie „Vin Sur Vin“ oder „Viniculture“ beliefern – bremse die Entwicklung: „Ich bekomme längst nicht alle Weine, die ich gerne hätte.“
Doch auch das könnte sich vielleicht bald, peu à peu, ändern. Ein zentrales Event der Naturwein-Branche nämlich, die Fachmesse „Raw Fair“ aus London, bei der Winzer, Vertriebsunternehmen, Einkäufer, Gastronomen und Fans sich tummeln und austauschen, hat bereits 2015 und 2016 in Berlin stattgefunden (November, „Markthalle Neun“). Wer sich in das Thema Naturwein mit Nase und Mund einarbeiten will, ist hier gut platziert.
Editierte Version des zuerst in fizzz 11/2016 erschienenen Beitrags.
Naturwein in Berlin: 5 Adressen
„Jaja – Naked Wine Bar & Shop“
Weichselstraße 7
12043 Berlin
www.jajaberlin.com
„Wild Things“ (Weinbar, Restaurant, Mezcal-Bar)
Weserstraße 172
10245 Berlin
www.facebook.com/wildthingsberlin
„Miller Low-Tech Wine & Kitchen“
Urbanstraße 126
10967 Berlin
www.miller-berlin.com
„Wine Rush Berlin“
Naturweinfest, findet unregelmäßig statt
www.winerushberlin.com
„Raw Fair Berlin“
Naturwein-Messe, jährlich
www.berlin.rawwine.com