Digitale Tools vereinfachen nicht nur Backoffice-Prozesse in der Gastronomie und im Catering. Sie helfen auch beim wichtigen Thema Inklusion von Mitarbeitern mit kognitiven Schwächen oder bei Sprachbarrieren. Wie es funktioniert, zeigt eine Nudelbar am Bodensee.
Auf den ersten Blick könnte man denken, die Nudel Emma in Überlingen am Bodensee sei ein typisches, modernes Takeaway-Konzept, wie man es aus Einkaufszentren oder Citylagen kennt: Die Kunden geben ihre Bestellung am Tresen auf, die Order kommt ins Kassensystem und die Mitarbeiter beginnen mit der Zubereitung.
Der Name sagt es schon: Pasta steht im Zentrum, garniert mit individuellen Saucen-Toppings, abgefüllt nachhaltige Take-away-Boxen. Verschiedene Kreationen von „Spacy Arrabiata“ über „Bella Bolognese“ bis „Salbei Symphonie“ bietet „Nudel Emma“ an. Es sind auch individuelle Extras wie Hackfleisch, Dinkelbulgur oder getrocknete Tomaten bestellbar. Mit Wasserdampf werden die vorgegarten Nudeln binnen einer halben Minute gefinisht; für die Saucen und die darin enthaltenen Komponenten verwenden die Mitarbeiter ebenfalls mit Wasserdampf betriebene Rührstäbe, sie mixen und erhitzen die Toppings gleichzeitig.
Leitsystem führt Menschen mit kognitiven Schwächen
So weit, so gut. Das Besondere an diesem Konzept: Hier arbeiten ausschließlich Menschen mit kognitiven Schwächen. Menschen, die im „regulären“ gastronomischen Arbeitsmarkt höchstwahrscheinlich keine Anstellung erhalten würden, weil es ihnen schwer fällt, sich Arbeitsschritte zu merken.
In der „Nudel Emma“ fällt ihnen die Arbeit leicht, dank „digitaler Assistenz“: Durch die Zubereitungsschritte für jedes Gericht führt sie ein softwaregesteuertes Licht-Leitsystem, ein Beamer über dem Tresen strahlt die GN-Schalen an. Leuchtet eine Schale grün auf, wissen die Mitarbeiter, dass diese Zutat als nächste dran ist. Die sukzessiven Schritte folgen der persönlichen Arbeitsgeschwindigkeit, die Lichtsequenzen werden durch die Kellen in den Schalen ausgelöst. An ihnen befinden sich nämlich wasserdichte, batteriebetrieben Bewegungssensoren. Wird die Kelle wird bewegt, heißt das: Eine Portion wird nun verwendet. Der Rechner prüft dann, ob es sich um die korrekte Zutat handelt. Ist dies der Fall, geht das Licht aus und die nächste Schale wird „grün“. Ist es die falsche Kelle bzw. Zutat, leuchtet es rot und der Mitarbeiter weiß, dass er eine andere Kelle nehmen muss.
Mit diesem angeleiteten Prozess lassen sich in der „Nudel Emma“ pro Stunde 60 bis 80 Portionen an die Kunden bringen. Pro Tag sind es derzeit rund 140 Portionen – man betreibt ausschließlich Mittagsgeschäft, jeweils von Montag bis Freitag. Die „Nudel Emma“ gehört zur gemeinnützigen GmbH „SozialKulturelle IntegrationsDienste“, kurz SKID. Sie beschäftigt Menschen mit Behinderungen in verschiedenen Werkstätten. Auch ein Bio-Bistro in der Überlinger City und eine eigene Pasta-Manufaktur – die freilich auch die „Nudel Emma“ mit frischer Ware beliefert – gehören zum Portfolio. Den Großteil der Gäste machen übrigens Externe aus, gleich nebenan befindet sich eine Schule, von der viele Mittagshungrige kommen, zudem sorgen Parkplätze und die Lage an einer größeren Straße für Frequenz.
Einsetzbar überall, wo es um Inklusion geht
Wie kam es zu diesem in Deutschland bislang einzigartigen Konzept? Ganz am Anfang stand ein Zivildienst. Den absolvierte der Industriedesigner Michael Thieke vor rund 20 Jahren in den Werkstätten am Bodensee. Den Draht zu seiner alten Stelle hat er nie verloren, und 2017 fragten die Überlinger ihn an, ob er Interesse habe, ein Gastronomiekonzept für sie zu entwickeln. Thieke arbeitete damals – und auch jetzt noch – für das in Berlin ansässige Pasta-Bar-Konzept „Tre Secondi“, das ein eigenes Dampf-Kochsystem entwickelt hat. Parallel konzipierte er die Grundlagen für ein digitales Assistenzsystem, das Menschen mit kognitiven Schwächen bei zu erledigenden Arbeitsschritten zur Seite steht. Mit dem angefragten Projekt aus Überlingen bot sich Thieke die Möglichkeit, einen Prototypen in einer Gastronomie zu realisieren. Das Software-System dafür entwickelte er unter dem Namen Freigeist-Lab zusammen mit zwei Programmierern, pädagogische Unterstützung liefert der Geschäftsführer der SKID gGmbh, Reinhard Wein. Das Garsystem kommt von „Tre Secondi“ und die Nudeln werden, wie gesagt, inhouse produziert.
„Wir arbeiten in Überlingen mit einem frei programmierbaren Projektor und können die Projektion auf die Größe abstimmen, das macht es recht einfach in der Umsetzung“, so Thieke. Prinzipiell sei das System aber überall dort einsetzbar, wo mit Komponenten gearbeitet wird: „Wir könnten aber auch mit LEDs arbeiten, die zum Beispiel auf Flaschen an der Cocktailbar angebracht sind.“ Auch bei Sprachbarrieren – zum Beispiel, wenn es um die Beschäftigung von Geflüchteten geht – kann das System des „Freigeist-Lab“ helfen. 2018 gewann das Konzept den „Deutschen Gastro-Gründerpreis“, 2019 erhielt es den Exzellent-Preis der BAGWfbM (Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen).
Das Lab geht auf Roadshow
Der nächste Schritt ist, das in der „Nudel Emma“ erfolgserprobte System von „Freigeist-Lab“ in die Multiplikation zu bringen – nach einer anfänglichen halbjährigen Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung soll dies nun möglichst förderungsfrei geschehen.
„Wir wollen das Projekt aus Umsätzen weiterentwickeln“, so Thieke. Sein Ziel ist ein „Social Franchise“, das neben der Soft- und Hardware auch das komplette Foodkonzept an soziale Einrichtungen lizenziert. Es böte nicht nur den dort Beschäftigten neue Arbeitsperspektiven, sondern auch die Möglichkeit, die Einrichtungen über die Gastronomie noch mehr für ihr Umfeld zu öffnen. Inklusion eben.
Aktuell bereitet man eine Roadshow in Zusammenarbeit mit einem Betreiber von Einkaufszentren vor: In dessen Malls soll eine mobile Variante des Überlinger Modells für jeweils vier Wochen aufgebaut werden. Dieses „Pop-up“ gibt es sogar schon: Auf ausgewählten Events mit Möglichkeit zur Außendarstellung, beispielsweise beim Tag der offenen Tür des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, kommt es zum Einsatz. Geplant sind sechs bis acht Tourstopps. Vor Ort, so der Plan, werden dann Mitarbeiter lokaler Inklusionsbetriebe mit Hilfe des Licht-Leitsystems frische Speisen für die Centerkunden zubereiten. Die generierten Umsätze sollen die Tour bestenfalls komplett finanzieren.
Michael Thieke sieht für digitale Assistenz, wie er sie im „Freigeist-Lab“ entwickelt hat, viel Potential, besonders im Bereich des Caterings und der Gemeinschaftsverpflegung: „Die Prozesse werden dort, allein aufgrund wachsender Anforderungen an Abrechnung und Dokumentation, immer digitaler. Weil sich die Einrichtungen ohnehin immer mehr mit dem Thema Digitalisierung beschäftigen, wird es leichter, ein solches System zu integrieren.“
Mehr Informationen:
www.freigeist-lab.com
www.nudel-emma.de