Reportage: Potsdamer Straße, Berlins neue Gastromeile

von Jan-Peter Wulf
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Neu über den Dächern der Potsdamer Straße: das „Golvet“

Wenn aus einer vierspurigen Verbindungsstraße mitten in der Stadt eine gastronomische Flaniermeile wird: Rund um die Potsdamer Straße in Berlin entsteht ein neues urbanes Zentrum. Die Gastronomien sind schon da. Ein Besuch vor Ort. 

An diesem Nachmittag am Wochenende zwischen April und Mai sieht die vierspurige, vielbefahrene und laute B1 in diesem Abschnitt aus wie eine angesagte Flaniermeile. Es ist „Gallery Weekend“, schick gekleidete Menschen ganz in Schwarz, mit Sonnenbrillen trotz grauer Wolken auf der Nase und mit Katalogen unter dem Arm schlendern die Straße entlang von Galerie zu Galerie, schauen in den Flagship-Store des schwedischen Designer-Modelabels „Acne“ (der auch aussieht wie ein Geschäft für moderne Kunst) oder lassen sich in einem der hippen Restaurants und Cafés der Straße nieder.

Der neue gastronomische Hotspot Berlins

Berlin-Mitte also? Nein, wir sind in Tiergarten, auf der Potsdamer Straße. Stellte jemand die Frage, wo sich in Berlin gastronomisch gesehen gerade am meisten tut, dann sollte die Antwort lauten: hier. Vor vier, fünf Jahren eröffneten Galerien am nördlichen Ende dieser Verbindungsstraße zwischen Potsdamer Platz und dem Südwesten der Stadt, deren Bild ansonsten Gemüseläden, kleine Geschäfte, Spielhallen und Döner-Imbisse zeichnen.

Und jetzt tun es – bislang relativ konzentriert auf den nördlichen Abschnitt – die Gastronomien: Die Restaurants „Sticks’n’Sushi“ startete Anfang 2017, das „Oliv Eat“ eröffnet Ende 2016, im selben Jahr die „Brasserie Lumières“ des Weinhändlers „Les Climats“ und das „Maiden Mother & Crone“ anno 2015. In einem Hinterhof dieses Straßenzugs nahm im Sommer 2016 das „Panama“ den Betrieb auf und die separate, zum „Panama“ gehörige „Tiger Bar“ einige Wochen später. Hippster Neuzugang ist das „Golvet“ im ehemaligen „40seconds“ hoch über der Straße mit Blick auf den Potsdamer Platz. 

Ein paar Laufmeter entfernt, in der kreuzenden Lützowstraße, befindet sich seit ein paar Wochen Berlins „dernier cri“ für thailändische Küche, das „Kin Dee“. Schon vorher war hier ein Thailänder, das „Edds“, dessen Besitzer in den Ruhestand gegangen und in die Heimat zurück gekehrt sind. Drinnen diniert augenscheinlich gut situiertes Publikum, draußen stapfen Damen in kurzen Röcken und langen Stiefeln über das Trottoir, die Gegend ist als Straßenstrich bekannt. Rotlicht und Restauration, Schmuddel-Image und hippes Gastro-Flair bilden einen reizvollen Mix. Fast wie in Hamburg, dessen Reeperbahn in den letzten Jahren in Sachen Gastronomie und Hotellerie bekanntlich eine enorme Entwicklung hingelegt hat.

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Longseller auf der Potsdamer Straße: die „Victoria Bar“

Mehr Angebot, mehr Frequenz

Die „Victoria Bar“ ist nicht Teil dieses aktuellen Hypes. Sie war schon vorher da, sie befindet sich seit über 15 Jahren auf der Potsdamer Straße. Hat man damals, 2001, schon geahnt, dass hier irgendwann ein neuer Hotspot entstehen würde? Barchefin und Mitbetreiberin Beate „Beat“ Hindermann: „Die aktuelle Entwicklung konnten wir natürlich nicht voraus sehen. Aber wir haben uns damals hier angesiedelt, weil die Potsdamer Straße eine zentrale Verbindungsachse ist, die wahre Mitte zwischen Mitte und Charlottenburg. Wir wollten den Leuten aus beiden Zentren die Möglichkeit geben, bei uns einzukehren.“ Das hat gut geklappt. Über mangelnde Frequenz konnte sich die schöne Bar mit ihrem Kunstbezug – das Interieur zieren ein Wandgemälde von Thomas Hauser und chinesische Wallpaper von Stu Mead, die Illustrationen in der Cocktailkarte stammen von Raphael Danke – in der Vergangenheit nicht beklagen.

Jetzt erst recht nicht mehr: „Gute Restaurants haben hier bislang völlig gefehlt, unser Geschäft hat angezogen“, erklärt Hindermann. „Der Kuchen wird ja nicht kleiner, wenn mehr Angebot entsteht – es kommen jetzt noch mehr Leute zur Potsdamer Straße.“ Es hat aber auch gedauert. Von der Teilung Berlins hat sich die Straße lange erholen müssen. Dort, wo heute der Potsdamer Platz ein zentraler Touristenmagnet ist, war zu Zeiten West- und Ostberlins nichts als Mauer und Stacheldraht, der obere Abschnitt der Potsdamer Straße war folglich eine Sackgasse.

Jetzt ist die Dynamik da, und nicht allein durch anreisendes Publikum: Nach Osten hin wurde in den letzten Jahren die Bebauung enorm nachverdichtet. In den Blöcken zwischen Potsdamer Straße und dem Gleisdreieckpark ist ein neuer Stadtteil mit Tausenden von Wohnungen entstanden, weitere Büro- und Wohnhäuser werden hier nach und nach errichtet. Das im oberen Teil des langen Parks gelegene, 2016 eröffnete „Brlo Brwhouse“ ist keine zehn Gehminuten entfernt und fungiert als ein gastronomisches Pionierprojekt im Rahmen der Gebietsentwicklung „Urbane Mitte“. Als Container-Popup lässt es sich, wenn es irgendwann so sein muss, auch anderswo wieder aufbauen.

Aufwertung ohne Charakterverlust

Veränderung ist das Thema des gesamten Areals. Joshua Lange, General Manager des Restaurants „Panama“, befürwortet sie: „Ich habe das Gefühl, dass sich das Publikum auf der Potsdamer Straße enorm gewandelt hat. Es weht ein frischer Wind durch die Straße.“ Angesprochen auf eines der Reizthemen der Stadt, die Gentrifizierung, erklärt er: „Wir wollen ein Ort sein, der für alle etwas bietet und dazu beiträgt, dass die Gegend besser wird, ohne ihren Charakter zu verlieren.“

Restaurants wie das „Panama“, so Lange, fungierten schließlich auch als Orte sozialer Interaktion, derer es in der modernen Stadt und Kommunikationswelt immer weniger gebe. Ähnlich sieht es auch die Chefin der gegenüber liegenden „Victoria Bar“: „Die urbane Entwicklung ist nicht aufzuhalten“, sagt Beate Hindermann. „Die Potsdamer Straße ist schon immer eine Nightlife- und Kulturstraße gewesen, und jetzt wird sie es hoffentlich noch mehr.“

Potsdamer Straße: ausgewählte Locations

Oliv Eat

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Käsekuchen im „Oliv Eat“

Oliver Mahne und Hans Thedieck haben den Ableger des „Café Oliv“ in Mitte im Herbst 2016 in der Potsdamer Straße Nummer 91 eröffnet. Auch hier fokussiert man sich voll und ganz auf das Tagesgeschäft und bedient den globalen Hipstergeschmack. Auf der Karte fehlen weder die Avocado-Stulle mit Sauerteigbrot zum Frühstück noch die Quinoa-Bowl oder das Pulled-Pork-Sandwich zum Mittag noch hausgemachte Brownies und Kuchen. Dazu gibt es Smoothies und Kaffeespezialitäten. Das Interieur hinter der großzügigen Glasfront wird von minimalistischem Sichtbeton bestimmt, gesessen wird auf Eames-Klassikern an nackten Holztischen. Üppiges Blumendekor lockert die White-Cube-Atmosphäre auf, Eyecatcher ist der imposante Wandteppich „Eden Big Bird Head“ von Jürgen Dahlmanns („Rug Star“). Abends kann die Location auch für Dinner-Events und Firmenveranstaltungen bis zu 50 Personen gebucht werden.

Panama

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Südländisches Flair im „Panama“

Janoschs berühmte Kinderbuch-Reise von Tiger und Bär – Aufbruch in fremde Welten, um am Ende das traute Heim als Glück wiederzuentdecken – war Inspiration für das Restaurantprojekt von Ludwig Cramer-Klett („Katz Orange“, „Contemporary Food Lab“). Das „Panama“ in der Potsdamer Straße 91 ist ein kulinarisches Wechselspiel von Nähe und Ferne, lokale Zutaten werden von Küchenchefin Sophia Rudolph und Team mit exotischen Ingredienzien kombiniert. Auch das Interieur greift dieses Thema auf: Das Souterrain ist mit Teppichen und Erdfarben diffus südländisch gestaltet, der obere Raum kombiniert diesen Stil mit modern-urbanen Elementen wie Neoninstallationen und Kunstobjekten. Ein privater Dining-Room, der „Bärensaal“, wurde soeben eröffnet und neu ist auch ein Austauschprogramm: Köche und Servicemitarbeiter ausländischer Restaurants werden eingeladen, wenn im Gegenzug Mitarbeiter aus dem „Panama“ eine Zeitlang in die jeweiligen Restaurants hineinschnuppern dürfen.
www.oh-panama.com

Tiger Bar

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die „Tiger Bar“ 

Die Remise des Hinterhofs der Potsdamer Straße 91, in der sich das „Panama“ befindet, ist das Zuhause der „Tiger Bar“. Die Bar leiten Levent Lanzke (zuvor „Le Croco Bleu“) und Oliver Mansaray („Katz Orange“). Highballs, Craft-Bier und Naturweine stehen im Zentrum des Konzepts; aus dem benachbarten Restaurant wird korrespondierendes Barfood geschickt. Aromen aus Erden und Steinen werden hier per Cold-Drip-Verfahren extrahiert und zu Bitters verarbeitet – der „Old Cuban“ beispielsweise wird mit Rum, Minze, Limette, Schaumwein und Schiefergestein gemixt. Nicht minder innovativ ist das nachhaltige Zusammenspiel von Küche und Bar: Abschnitte und Überbleibsel aus der Restaurantküche werden nebenan zu Infusionen weiterverarbeitet. Was nicht nur ökonomisch und ökologisch ist, sondern auch einen roten Faden zwischen Food und Drink für den Gast zieht.
www.oh-panama.com/en/tigerbar

Maiden Mother & Crone

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Das Mittagessen im MMC ist sehr beliebt

Es könnte glatt die Kantine einer Hochschule für Kunst und Popkultur sein: Aus dem Ghettoblaster tönt „I Love Your Smile“ von Neunziger-Jahre-One-Hit-Wonder Shanice. In der offenen, an einen Marktstand erinnernden Küche wird gewerkelt. Es strömen viele Hungrige hinein zum wochentäglichen Lunch im „Maiden Mother & Crone“ in der Potsdamer Straße 93. Nur an wenigen Orten dürfte das Mittagessen so cool und hip sein wie hier. Unter dem auf Facebook zu lesenden Motto „Mittagstisch. That´s it. No Bullsh*t“ bieten Tyco Cote und Christoph Kucik Gerichte aus stets frischen Zutaten an, gekocht mit viel Liebe und Leidenschaft – aufgetischt werden marokkanische Tajine-Gerichte, indisches Roti, deutscher Sauerbraten, israelische Shakshuka oder amerikanische Meatballs in Tonschälchen auf Holzbrettern, Selbstbedienung bei Speis und Trank ist angesagt. Kurz: Das „Maiden Mother & Crone“ ist ein täglich wechselnder, bunter Streetfood-Markt, nur eben untergebracht in einem klassischen Restaurant.
www.maidenmotherandcrone.de

Sticks’n’Sushi

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Unbedingt probieren: die Sashimi-Auswahl im „Sticks’n’Sushi“

Mit fast 500 Quadratmetern auf zwei Etagen befindet sich der flächenmäßig größte Gastro-Neuzugang der Potsdamer Straße im Haus Nummer 85. Früher waren hier die Büroräume des „Tagesspiegel“ untergebracht, jetzt haben Kim Rahbek und Thor Andersen an Ort und Stelle das Outlet Nummer 18 ihrer 1994 in Kopenhagen gestarteten Kette „Sticks’n’Sushi“ gelauncht. Rohfischgerichte sind das eine, Yakitori (Fleischgerichte vom Spieß) das andere Standbein des Konzepts. Jeder Gast wird vom Team laut und freudestrahlend mit einem „Irasshaimase!“ (herzlich willkommen) begrüßt, den Köchen um Chef Song Lee lässt es sich durch die offene Küche gut beim Werkeln zusehen. Oben bietet sich ein toller Galerie-Blick auf das Geschehen im Restaurant, vor oder nach dem Essen lässt es sich gut an der Inselbar des Restaurants Platz nehmen, viele Gäste bestellen sich zu Rolls, Sticks und Co. auch gleich einen Cocktail dazu. Tipp der fizzz-Redaktion: Als Vorspeise sollte unbedingt der Blumenkohl mit Trüffel-Goma geordert werden. Ein Umami-Gedicht.
www.sticksnsushi.berlin/restaurants/berlin.html

Kin Dee

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Foto: Robert Rieger / Freunde von Freunden

Erst wenige Wochen geöffnet, gilt das „Kin Dee“ schon jetzt als die heißeste Adresse für thailändische Küche in Berlin. 2016 hatten sich der thailändische Künstler Rirkrit Tiravanija und die Köchin Dalad Kambhu im Restaurant „dottír“ ein zweiwöchiges Popup-Stelldichein gegeben, jetzt haben sie zusammen mit dessen Betreibern Stephan Landwehr, Boris Radczun und Moritz Estermann (u.a. „Grill Royal“, „Pauly Saal“, „Einstein“) in der Lützowstraße 81 ein Restaurant eröffnet. Für das Family-Style-Dining auf gehobenem Niveau werden Pasten aus importierten Zutaten wie Kaffir-Limette, Wildingwer, Galgant, Kurcuma, Koriander oder rotem Chili hergestellt. Das Fleisch hat Bioqualität, der Fisch kommt aus nachhaltigem Fang und landestypische Frischeprodukte wie Flugmangos werden der CO2-Bilanz zuliebe mit hiesigen Äpfeln ausgetauscht. Sogar in den landestypischen Salat kommt statt der Papaya eingelegter Kohlrabi vom Wochenmarkt – der eignet sich nach Bekunden der Küchenchefin hervorragend dafür.
www.kindeeberlin.com

Editierte Version des zuerst in fizzz 6/2017 erschienenen Beitrags.

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