Im engen, lärmigen Stadtteil Neukölln gibt es eine kleine Oase: den Richardkiez. Das ehemalige böhmische Dorf, heute mitten in der Stadt liegend, schlummerte lange dahin – doch jetzt wird es von der Szene erobert. Das bringt interessante Openings, aber auch steigende Preise und Spannungen mit sich.
Ein Platz mit großen Bäumen und einer alten Schmiede. Ringsum ein- und zweigeschossige alte Häuser, davon abgehend Kopfsteinpflasterstraßen mit Hofeinfahrten und grüne Gärten – wer den Richardplatz nicht kennt, glaubt nicht, sich mitten in Berlin-Neukölln zu befinden.
Der heutige Richardkiez war einst ein Dorf bei Berlin (damals noch wesentlich kleiner), der Richardplatz war sein Dorfanger. Hier fanden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wegen ihres Glaubens verfolgte böhmische Protestanten eine neue Heimat: Friedrich Wilhelm I. von Preußen waren Herkunft und Bekenntnis ziemlich egal, er wollte sein von der Pest entleertes Land wieder bevölkern und lud en gros zu sich ein. Böhmen kamen nach Preußen ebenso wie Hugenotten und Holländer. Bis heute leben viele der Nachfahren jener frühen Migranten in „Böhmisch Rixdorf“, wie der Stadtteil auch genannt wird.
Gastro-Dynamik
Von Zuwanderung ist Neukölln im Ganzen heute bekanntlich stark geprägt: Rund 25 Prozent Migranten leben im Bezirk, der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund liegt bei rund 43 Prozent. In den letzten sieben, acht Jahren ist Neukölln ein wahrer Trendbezirk geworden, viele junge Menschen aus Europa und praktisch der ganzen Welt ziehen her. Was auch den kleinen Richardkiez, in dem keine 15.000 Menschen wohnen, belebt und gastronomisch dynamisiert.
„Die Ecke ist gastronomisch wesentlich besser geworden“, sagt Thorsten Pannek, gebürtiger Neuköllner, Ex-Bartender (u.a. „Green Door“) und heutiger Food-Entrepreneur, der mit „Pannek seine Budike“ nicht nur Streetfood-Events ansteuert und Caterings macht, sondern auch eine Biergartenküche an der nahe gelegenen Rollberg-Brauerei betreibt. „Früher gab es hier fast nichts, jetzt ist das Angebot wirklich gut. Das Problem dabei ist nur, dass die Mieten dramatisch steigen.“
Sowohl die privaten als auch die gewerblichen. Es gebe teilweise gar Leerstand in den Gewerbeflächen, weil die Vermieter abwarten, bis sie noch höhere Mieten verlangen können, so Pannek: „Auch Ablösen von bis zu einer Viertelmillion für Gastroflächen sind in Neukölln keine Seltenheit mehr.“
„Das Ganze hat Vor- und Nachteile“, stimmt Peter Edinger zu, Betreiber der 2017 eröffneten Bar „Herr Lindemann“ (siehe Locations). „Gut ist, dass die Durchmischung größer wird, dafür steigen die gewerblichen Mieten rapide: Vier, fünf Euro auf den Quadratmeter hat man hier früher bezahlt, jetzt schon elf bis 18.“ Was zwar immer noch weniger als im Bezirk Mitte ist, aber dort ist auch die Frequenz viel höher. „Ich lebe von Stammgästen“, erklärt der Gastronom, der zuvor als Bartender in der Bar „TiER“ in der Weserstraße arbeitete. Stadtmagazine hätten ihm zwar immer wieder einen Schwung hipper junger Leute herbeigebracht, aber nachhaltig trügen „Herrn Lindemann“ die Nachbarn. „Und das freut mich“, so Eder.
Protestfrühstücken gegen Gastronomie
Nachbarschaftlich harmonisch ist es allerdings nicht überall so hier. Teilweise wird die neue Gastronomie, die sich rund um den Richardplatz niederlässt, von den Bewohnern als Fremdkörper angesehen. Ihren Protest geben sie am Böhmischen Platz, dem zweiten großen Platz des Kiezes, neuerdings zum Beispiel in Form von öffentlichen Frühstücken kund: „Nachbarschaftlich und nicht kommerziell“ ist das Motto dieser Frühstücke – sie richten sich gegen die Gastronomie ringsum, die den Platz nicht mit Tischen und Stühlen erobern soll. Berichtet uns Felix Hungerbühler, Chef vom Dienst von Kiez und Kneipe Neukölln, einer monatlichen, im Ehrenamt produzierten lokalen Zeitung, die den Wandel im Bezirk kritisch begleitet.
„Gerade am Böhmischen Platz schauen sich Investoren um, Künstler werden aus ihren Ateliers geworfen – da passiert richtig viel“, weiß er zu berichten. Viele Miethäuser würden verkauft, die Parzellen zerlegt und dann noch teurer verkauft, so seine Beobachtung: „Die klassische Kneipe hat das Nachsehen, wenn darüber hochpreisige Wohnung verkauft werden soll.“ Und das ist hier das zentrale Problem: „Denn die Vermieter wollen eigentlich einen vernünftigen, langfristigen gewerblichen Mieter, der pünktlich zahlt“, erklärt „Kiez und Kneipe Neukölln“-Herausgeberin Petra Voß.
Schwierig aber werde es, wenn die Erben das Geld statt der Immobilie haben wollen. Dann wird verdrängt, dann wird es teuer. Vorkaufsrechte (zum Beispiel über die Kommune) für die ansässigen Mietergemeinschaften, ein verstärkter Dialog zwischen den lokalen Akteuren inklusive der Gastronomie – könnten helfen, Spannungen abzubauen und das wechselseitige Verständnis zu fördern. Zu viel neben- und gegeneinander, zu wenig miteinander – man muss kein Soziologe sein, um das zu erkennen, da reicht schon das Flanieren durchs Quartier.
Erst einmal ist die Aufwertung eines Viertels, auch was das gastronomische Angebot betrifft, ja keine schlechte Sache. Woran es hier – wie in vielen urbanen Kontexten – jedoch zu mangeln scheint, ist ein integrierter Veränderungsprozess. Im Handlungskonzept 2017-2019 des lokalen Quartiersmanagements – das im Prinzip genau das ist, ein Vermittler zwischen den Akteuren – ist viel von Integration zu lesen. Der Begriff „Gastronomie“ taucht indes nicht ein einziges Mal auf. Auch im Richardkiez geht nun das Gespenst der Gentrifizierung um.
Herr Lindemann
In Burrweiler in der Pfalz betrieb ein Herr Lindemann im 19. Jahrhundert eine florierende Heilkräuterfabrikation. Lindemann junior eröffnete Anfang der 1920er-Jahre eine Dependance am Richardplatz, ließ „Produkte berauschender Kräuter“ herstellen – und führte die Manufaktur mit ihren halluzinogenen Erzeugnissen alsbald in den Ruin. Seit Mitte 2017 gibt es hier nun wieder berauschende Kräuter. Peter Edinger züchtet sie zum Teil im eigenen Garten in Brandenburg und mixt daraus Drinks wie den „Ziegenpeter“ mit Ziegenkraut-Infusion, Rum. Wermut und Grapefruit. „Unzüchtige Ziegenwurzel“ heißt das Botanical aus dem Chinesischen übersetzt, die Briten nennen es „horny goat weed“, und bei Ziegen hat man nach dem Verzehr des Grüns erhöhte sexuelle Lust und Ausdauer festgestellt … ein Salbei-Elixier auf Ginbasis oder Hibiskus-infusionierter Bourbon sind weitere Basisprodukte für die „Herr Lindemann“-Drinks.
Richardplatz 16
www.facebook.com/pg/BarHerrLindemann
The Future Breakfast
Herzhafte, internationale Frühstücke boomen in Berlin – siehe „Benedict“, „House of Small Wonder“, „Allan’s Breakfast Club“ und Co. Katie James und Florian Tränkner haben ihr australisches „The Future Breakfast“ bislang aus dem Nagetusch-Caravan heraus auf Streetfoodmärkten angeboten und sind Anfang 2018 am Böhmischen Platz sesshaft geworden – ein typisches Beispiel für den Sprung vom mobilen zum stationären Konzept. Pfannkuchen mit Matcha, Kakao-Buchweizen-Granola, Eggs Benedict, in Dukkah gerösteter Blumenkohl stehen zum Beispiel auf der Karte des minimalistisch eingerichteten Cafés. Zum Konzept des „The Future Breakfast“ gehört auch, Abfall zu reduzieren und aus verbliebenen Zutaten neue Speisen herzustellen. Hier kooperiert man mit den Less-Waste-Experten von „Isla Coffee“. Den Food-Caravan will das Betreiberpaar auch wieder ans Rollen bringen, wenn sich die stationären Prozesse eingespielt haben.
Böhmische Straße 46
www.thefuturebreakfast.com
Hallmann & Klee
Mit der Erfahrung und dem Know-how aus der Fine-Dining-Gastronomie haben Sarah Hallmann und Friederike Klee 2016 am Böhmischen Platz ein – auch optisch – typisches Konzept der neuen Berliner Mittelklasse eröffnet: regionale, hochwertige Zutaten werden in der offenen Küche zu Speisen auf moderatem preislichem Niveau verarbeitet; das Interieur prägen Naturtöne und geweißtes Mauerwerk, freihängende Birnen und die Abwesenheit von Tischdecken. Als Hauptgänge gibt es zum Beispiel einen Zander mit Kartoffelbrei, Ochsenbäckchen oder ein Rinderfilet mit Trüffelremoulade, diverse Dinnetes sowie (deutsches) Frühstück und herzhafte Snacks stehen auch im Programm. Biodynamische Weine gibt’s dazu. Zusatzgeschäft Feinkost: Das frisch gebackene Brot, das beim Speisen vorweg gereicht wird und auf keinen Fall links liegen gelassen werden sollte, sowie Marmeladen, Öle und Weine werden auch außer Haus verkauft.
Böhmische Straße 14
www.hallmann-klee.de
Café Botanico
Manche Berliner Gastronomie bekommt viel Presse und Aufmerksamkeit für ihr „brutal lokales“ Konzept, doch so lokal wie bei diesem stillen Star ist es selten: In einer ehemaligen, verwilderten Kleingartenanlage züchten Martin Höfft und sein Team auf über 1.000 Quadratmeter alte Gemüsesorten, Obst und Wildpflanzen an, ganzjährig, nach dem Naturprinzip der Permakultur und biozertifiziert. Vom Bärlauch bis zur Zitronenmelisse werden rund 200 Zutaten für die Speisen des „Café Botanico“ angebaut, Wildkräutersalat, Gremolata, Rojeva (wilde Erbsen), Wildkohl, Mangold und Co. finden in der italienisch geprägten Küche des Hauses Verwendung. Die Küche ist dabei eine charmante Neunzigerjahre-Einbauküche für eine eigentlich private Nutzung, im WC befindet sich eine Badewanne. Es werden auch Führungen durch den Kräutergarten angeboten, bei denen auch direkt von den essbaren Pflanzen gekostet werden kann.
Richardstraße 100
www.cafe-botanico.de
Paulinski Palme
Früher nannte man das „All-in-One“, hier heißt es Frühstückshaus, frischer Mittagstisch und Berliner Abendbrot – das „Paulinski Palme“ punktet bei seinen Gästen mit hippem Frühstück vom Kürbis-Granola über diverse Eierspeisen bis zur Pastramistulle, mittags gibt es im wöchentlichen Wechsel zum Beispiel Königsberger Klopse, Risotto mit Spargel und Pilzen oder BBQ-Rinderbrisket. Abends locken eine zünftigen Jausenplatte, Brotsalat, Käsestulle und Co., Schoppen und diverse handwerkliche Biere vom Fass und aus der Flasche. Die Produkte sourcen die beiden Betreiber Paul Adam (u.a. „Reinstoff“) und Max Schippmann vor allem lokal und zum Teil aus der direkten Nachbarschaft – die Wurst kommt aus der legendären „Blutwurstmanufaktur“ und die Backwaren von der „Königlichen Backstube“, die beide in Nachbarstraßen ansässig sind, Getränke bezieht man großenteils von „Sommerfeld“ gleich gegenüber und den Käse vom Neuköllner Rohmilchexperten „Peppi Käse“. Die Weine kommen zum Teil von Naturwein-Spezialisten „Viniculture“ aus Charlottenburg – wer mutig ist, bestellt sich im „Paulinski Palme“ ein Glas des biestig-fantastischen „La Cosa“.
Richardstraße 76
www.paulinskipalme.de
Arkaoda
In die Ex-Bowlingbahn am Karl-Marx-Platz, in welcher zuvor die Partybar „Schiefe Bahn“ beheimatet war, ist die Neuköllner Dependance des „Arkaoda“ eingezogen: Der Club prägt schon seit fast 20 Jahren das Istanbuler Nightlife. Ähnliches schwebt Clubmacher Góktan Budakoglu, der mit nach Berlin herüber gezogen ist, auch für den hiesigen Ableger vor. Idee ist, „einen Raum zu schaffen für unabhängige, musikalische und künstlerische Positionen und Entwicklungen“ und eine „Nische für Konzerte, Festivals und Partys jenseits von Genre-Schranken in Zusammenarbeit und Austausch mit lokalen wie internationalen Gleichgesinnten“ zu schaffen. Das Booking ist vornehmlich auf experimentellen Underground ausgelegt, es gibt aber auch Konzerte und andere Events. Das „Arkaoda“ ist nicht nur Club und Bar, sondern auch Tagesgastronomie, das neben Kaffeespezialitäten auch einige, vorwiegend mediterrane Speisen und Snacks im Angebot hat.
Karl-Marx-Platz 16
www.facebook.com/berlinarkaoda
Dieser Beitrag erschien zuerst in FIZZZ 7/2018.