Gastro-Deepdive: Schillerkiez in Berlin-Neukölln

Vom Problem- zum Ausgehviertel

von Jan-Peter Wulf
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Im Zentrum des Kiezes: Die Genezareth-Kirche mit Anbau, in dem sich heute das „Terz“ befindet. Foto: Redaktion

 Früher zogen Banden durch die Straßen und die Menschen reihenweise weg. Heute ist der Schillerkiez eines der angesagtesten Viertel Neuköllns. Seit aus dem Flughafen ein Naherholungsgebiet geworden ist, sind die Straßen rund um die Schillerpromenade schwer angesagt – und die Gastronomie pulsiert.  

„An diesem Ort sind keine Geschäfte zu machen. Selbst Second-Hand-Läden haben kein Auskommen mehr. Hoffnungslosigkeit hat ganze Straßenzüge befallen, wie eine Epidemie greift die Depression um sich, mitten in Berlin.“ Mit diesen apokalyptisch klingenden Sätzen beschreibt der Focus-Reporter Wolfgang Bauer den Schillerkiez in Berlin-Neukölln. Er schreibt weiter vom „morbiden Swing“ der Schillerpromenade und einer „sturmreif geschossenen Kirche“, in deren Backsteinen Bäume wurzeln und deren Fenster nach zahlreichen Demolierungen zugemauert worden sind.

Der Bericht stammt aus dem Jahr 2001. Wer heute, rund 22 Jahre später, vor jener Genezareth-Kirche auf dem Herrfurthplatz steht, welcher den Mittelpunkt des Gründerzeitviertels markiert, wird sich die Augen reiben: Aus der No-Go-Area, berüchtigt für umherziehende Banden, ist ein Go-To-Kiez geworden. Früher setzte der Bezirk eine Taskforce zur Steigerung der Sicherheit im Problemkiez ein, heute flanieren besonders am Wochenende viele Menschen mit Kaffeebechern und Wegbieren durch die Straßen.

20.000 Menschen leben in dieser Kleinstadt mitten in der Metropole, die im Norden vom Columbiadamm, im Osten von der Hermannstraße, im Süden von der Leinestraße und im Westen vom Tempelhofer Feld begrenzt wird. Letzteres hat einen einen wesentlichen Anteil daran, dass der Schillerkiez heute so angesagt ist: Die weitläufige Freifläche ist zum Berliner Naherholungsgebiet geworden. Nachmittags und abends strömen viele Feldbesucher in den Kiez hinein. Kioske, Eis- und Kaffeewagen, Kneipen, Cafés und Restaurants profitieren von der Frequenz. Wohnungen, die früher günstig zu haben waren oder lange leer standen, sind heute teuer und rar – direkt an einem Park zu wohnen, der größer ist als der Central Park in New York, ist angesagt.   

Vom Flughafen zum Flanierfeld

Die Gentrifizierung, die stattgefunden hat und immer noch stattfindet, hat einen Stichtag: 30. Oktober 2008. Da hob der letzte Flieger vom Flughafen Berlin-Tempelhof ab. Vom frühen Morgen bis späten Abend donnerten die Maschinen knapp über die gleich angrenzenden Häuserzeilen hinweg und ließen die Wände erzittern. Heute noch sind Warnlampen auf einigen der Dächer im Schillerkiez zu sehen. So auch auf der Genezareth-Kirche, die heute allerdings nicht mehr verrammelt, sondern ganz im Gegenteil sehr weltoffen ist – Künstler können in ihren Räumen ebenso arbeiten und proben wie Spiritualitäts-Fans an Meditationen teilnehmen. Gleich neben der Kirche befindet sich ein quaderförmiger Bau. Einst Gemeinderaum, zog erst das Cafe „Selig.Berlin“ ein und seit Ende 2020 ist es Heimat des Terz Berlin von Jeremias Stüer und Daniel Kalthoff.

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Blick ins „Terz“

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Ein Teller im „Burro Unchained“

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Naturweinhandlung und -bar: Treat

Die beiden Gastronomen kennen den Kiez gut und haben seine Entwicklung beobachtet. 2018 eröffneten sie in einem Nebengebäude einer Friedhofskapelle gleich auf der anderen Seite der Hermannstraße das wunderschöne Gewölbecafé 21 gramm. „Früher gab es im Schillerkiez nur Fast-Food-Imbisse und ein paar Altberliner Kneipen“, erinnert sich Stüer. Was sich bald nach der Flughafenschließung (2008) und Feldfreigabe für das Publikum (2010) änderte: 2011 eröffnete in der Weisestraße die Kneipenbar Frollein Langner mit Kunst, Kultur und Kicker.

Bald darauf schoben die Macher den hippen Burgerladen „Rundstück Warm“ (mittlerweile wieder geschlossen) nach. Es folgten u.a. das italienisch-moderne Caligari (2014), das französische Café-Restaurant L’Eustache, das Café Lux und die „No58 Speiserei“ (heute „Café Pilz“), alle im Jahr 2015. So ging es immer weiter.

„Das Barra (eröffnet 2018, Anm. d. Red.) war für mich der erste Laden, bei dem ich dachte: Wow, jetzt kannst du hier im Kiez aber richtig gut essen gehen“, so „Terz“-Betreiber Jeremias Stüer. Das von drei Briten betriebene „dynamische Restaurant“ bietet regional-saisonale Produktküche, arbeitet eng mit Landwirtschaft und Lebensmittelhandwerk zusammen und gießt zu den Speisen vornehmlich Naturweine ins Glas. Im Lockdown wandelte es sich zum Takeaway-Imbiss für Fried-Chicken-Sandwiches, die so heiß begehrt waren, dass man sie nur bei rechtzeitiger Vorbestellung ergattern konnte.

Kulinarische Vielfalt

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Vor dem „Sacrebleu!“ und dem „La Côte“

2023 präsentiert sich die Kulinarik des Kiezes facettenreich. Sie reicht von äthiopischen („Lalibela“), sudanesischen („Black Rhino“, „Sahara“) und mexikanischen („Club del Burro“) Imbisskonzepten über britisches Comfort-Food im Lonely Hearts Café“) und Pizza bis zu portugiesischen Bäckereien („Unser Café“), hausgeröstetem Kaffee („Kaffeeraum“) und chinesischen Dumplings („Han West“).

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Ein Teller im „Sacrebleu!“: Schwarzwurzel in japanischer Hollandaise, dazu ein weißer Rioja

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Levanteküche im „Café Pilz“

Im Café Pilz wird vegane Levante-Küche aufgetischt, im La Côte geht’s mediterran zu, im Burro Unchained wird Mexiko frei interpretiert. „Dass es so viel Zuzug von Leuten gibt, die Lust auf gutes Essen haben, finde ich super“, so Gastronom Jeremias Stüer. Auch, dass es – vor allem am Wochenende – deutlich touristischer geworden ist, begrüßt er: „Hier trifft sich eine Foodszene, die sich vor allem über Instagram informiert. Was wir mit unseren Läden natürlich bedienen.“

Das Brooklyn von Berlin?

Der Foodhype geht schon frühmorgens los, wenn sich vor der Trend-Bäckerei „Gorilla“ an der Hermannstraße mitunter lange Schlangen bilden, und endet spät abends in den Restaurants und Bars des Kiezes – jetzt auch im neuesten Zugang, der im Herbst 2022 eröffneten Weinbar Sacrebleu! Was noch fehlt, sei eine richtige Bar, findet Stüer. Es gibt zwar die amerikanische Craft-Beer-Bar „Keith“ und diverse Party- und Rockkneipen, in denen sich Alt-Berliner und Neu-Hipster mischen, aber eine richtige Bar fehlt noch. Wird sicher nicht mehr lange dauern.

Der Focus-Reporter hatte den richtigen Riecher, als er 2001 seinen Bericht mit diesen Sätzen schloss: „Vielleicht erreicht die Szene-Karawane eines Tages auch die Schillerpromenade. Vielleicht stehen dann die Eventmanager und Werbefritzen staunend auf der Hermannstraße und sagen: Das ist das Brooklyn von Berlin.“

Dieser Artikel erschien zuerst in fizzz 1/2023.

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