Als die Rollläden auf der gegenüberliegenden Seite des monumentalen Raums sich heben und die Dunkelheit gleißendem Tageslicht weicht, ist es ein bisschen so, wie wenn im Panorama Bar die Jalousien tagsüber hochgehen und den Raver daran erinnern: Da draußen ist noch eine Welt. Vergiss sie nicht. Doch während mitten in Berlin der Blick dann aufs schnöde Industriegebiet am Ostbahnhof fällt, tut sich hier bezaubernde Landschaft auf. Und während es im Berghain munter stampft, herrscht hier traumhafte Ruhe. Gespenstische fast.
Riesige Weinbestände und Pilgerer auf dem Jakobsweg
70.000 Fässer Rotwein lagern hier, in den Kellern von Campo Viejo, einem der großen Player im Wein-Business von La Rioja, einer Provinz und autonomen Gemeinschaft im Norden Spaniens, die man weltweit namentlich wegen des Weins kennt, der von hier kommt. Touristisch wiederum liegt die Region, in der rund 300.000 Menschen leben, etwas abseits – das grüne, küstennahe Baskenland befindet sich nördlich, gen Süden sind es noch viele Kilometer bis Madrid, auch das Mittelmeer ist weit.
Dafür hört man es vom Hotelzimmer aus schon am frühen Morgen auf der Straße von Logroño, der Hauptstadt der Region, kratzen – Nordic-Walking-Stäbe bahnen den Pilgern auf dem Jakobsweg die Route gen Santiago de Compostela (übrigens nicht nur mitteleuropäischen Best-Agern nach Hape-Kerkeling-Lektüre: Junge Amerikaner und Asiaten mit Selfie-Sticks sind ebenso en route, der Weg ist im globalen Trend). Ob die allerdings auch mit dem Wein in Berührung kommen?
Avantgarde-Architektur wie auf einem Expo-Gelände
Dass mehr für das Marketing der Region gemacht werden muss, auf den Trichter kamen die Wein-Macher Riojas irgendwann selbst. Vor 20, 30 Jahren gab es zwar schon Weinanbau in mit heute vergleichbarem Maße, rund 20.000 Menschen leben hier direkt davon, indirekt noch viele mehr – aber es gab kaum Zugang von außen im Sinne einer Erlebbarkeit. Ein Freund, der ein echter Weinkenner ist, fuhr damals mit einem Bekannten hin, um – so die Idee – mit dem Rad von Weingut zu Weingut zu fahren. Wie in Rheinhessen. „Wir fanden schnell raus, dass es alles nur Weintraubenbauer waren“, berichtet er. Einkehren und Wein trinken? Fehlanzeige.
Das ist heute anders, in Logroño sind die Weinbars auch an einem kühlen Mittwochabend bestens gefüllt, und gleich mehrere Produzenten haben regelrechte Flagship-Stores errichtet und dafür Stars wie die kürzlich verstorbene Zaha Hadid (baute für das Unternehmen López de Heredia eine Bodega in Form eines Dekanters), Frank Gehry (baute ein Hotel für Marques de Riscal) oder den in Spanien bekannten Santiago Calavatra verpflichtet, dessen Silhouette der neuen Bodega für den Weinhersteller Ysios die Gipfel das angrenzenden kantabrischen Gebirges aufgreift, das La Rioja gen Norden vor Feuchtigkeit schützt, die Wolken bremsen hier geradezu ab. „Regenschatten“ heißt das, lernen wir.
Weißer Wein – ein neues Business-Kapitel in der Rotwein-Region?
Wie Ysios gehört auch Campo Viejo zum Spirituosen-Multi Pernod Ricard (bekannte Brands wie Absolut Vodka, Havana Club Rum und auch Our Berlin sind unter dem globalen Markendach, seit Juli 2016 hat Pernod Ricard den Weinvertrieb von Campo Viejo von Mack & Schühle übernommen). Die Rotweine von Campo Viejo werden weltweit verkauft, im wichtigen Markt Großbritannien ist man Marktführer und hat – exklusiv für UK – soeben einen Weißwein gelauncht. Vor fünf Jahren nämlich wurden die strengen Weinanbau-Regularien Riojas, über die der „Consejo Regulador de la Denominación Calificada Rioja“ wacht, gelockert – insgesamt neun weiße Trauben, darunter Chardonnay, Verdejo, Sauvignon Blanc und Tempranillo Blanco, dürfen hier nun angebaut werden.
Was zurzeit noch in geringem Maße passiert, auf eigens dafür abgestellten Kleinflächen des 270-Hektar-Imperiums (Flächen von Bauern, deren Trauben man zukauft, nicht eingerechnet) wachsen sie heran. Im Verhältnis zum Rotweinanbau sei man gerade mal bei vier, vielleicht fünf Prozent, berichtet man der Journalistenreisegruppe, die sich zum Rotweinpressen und Weißweinprobieren in der Versuchskellerei eingefunden hat.
In der gibt es, wie beinahe überall in dem Riesengebäude, einwandfrei laufendes WLAN, auch mit ausgehändigten Powerbanks und einer Akku-Ladestation ist man professionell auf die Medienvertreter eingestellt, gewährleistet, dass die Verbindung nicht abhanden kommt und die mitschlurfenden Instagrammerinnen während der Tour durchs Haus im Prinzip gar nicht von ihren Bildschirmen aufblicken brauchen.
Tempranillo ist die Rioja-DNA
Wir probieren verschiedene blutjunge, gerade erst gepresste Weiße ab Tank. Beim Weißwein sei man noch in der Experimentierphase, Ausgang offen, erklärt Chef-Önologin Clara Canals und ist sichtlich erstaunt, als der deutsche Journalist berichtet, dass man genau das, was wir im Moment probieren, in diesen Tagen als „Federweißer“ kaufen und trinken kann.
Speziell auf die Sorte Tempranillo Blanco hat man es abgesehen. Was Sinn macht, schließlich ist die rote Schwestertraube, die wir in dichten, kompakten Trauben probeweise auch mal selbst von den Stöcken schneiden dürfen, die DNA Riojas und Basis für alle Weine, hinzu kommen Sorten wie Graciano und Mazuelo bei den Qualitäten „Reserva“ und „Gran Reserva“. Weine, die lange liegen bleiben, bis sie verkauft werden können: „Reserva“ liegt 18 Monate in Barrique-Fässern aus amerikanischer und französischer Eiche und noch mal genauso lange in der Flasche. Beim „Gran Reserva“ werden gar 24 bzw. 36 Monate für den Ausbau angesetzt. Stets werden die Weine verschiedener Fässer zu einem Blend zusammengeführt, denn Rioja-Weine sollen die gesamte, in drei Untergebiete unterteilte Region geschmacklich gemeinsam repräsentieren.
Parzellenweine, die von der Rebe bis in die Flasche mikrogeografischer Herkunft sind, gibt es hier so gut wie gar nicht, wenngleich Hipster-Winzer wie der in Spanien bekannte Telmo Rodriguez mit Naturwein-Verfahren neuerdings wieder auf archetypische Weine setzen. Auch bei Campo Viejo streckt man die Fühlerchen zumindest ein wenig in diese Richtung aus, so gibt es eine Sonderedition von Weinen mit Herkunftsangabe. Zu kaufen allerdings nur im Bodega-Shop, sonst nirgends.
Ein maskuliner Wein
Weil das Lagern, Vermählen und erneute Lagern vor Ort passieren muss, ist hier eben auch alles ziemlich groß. 45.000 Quadratmeter, um genau zu sein. 70.000 Fässer liegen im eingangs beschriebenen „Berghain“, eine Ebene darüber 5,5 Millionen gefüllte Flaschen in riesigen Metallkäfigen, ein einsamer Gabelstapler bahnt sich den Weg durch die Gänge. Noch ein Level drüber stehen die gigantischen Stahltanks, in denen die Weine gären. Viele Menschen sieht man nicht.
Stolz ist man darauf, dass diese, von Ignacio Quemada gestaltete „Bodega Juan Alcorta“ die erste klimaneutrale Spaniens wurde, als sie 2001 in den Hügel hineingebaut wurde – die Erdanziehungskraft macht man sich zunutze, indem jeder Produktionsschritt den Wein tiefer ins Erdreich hineinbringt. Das spart Kraft und Energie beim Pressen, Pumpen, Fermentieren und Lagern.
„Rioja ist ein sehr maskuliner Wein“, findet der befreundete Weinkenner. Qualitativ, fügt er hinzu, absolut in Ordnung. Immer gut für einen Einstieg. Und im Preis-Leistungs-Verhältnis fast unschlagbar: Bei fünf Euro für den Tempranillo geht es ungefähr los, bei fünfzehn für den Gran Reserva ist bald schon wieder Schluss, außer man greift nach einer Vintage-Sorte. Dann kann es schon mal das Zehnfache sein.
Früher kamen auch weiße Trauben dazu
Der Jahrgang 1964 gilt nicht nur als Babyboomer-Hauptjahr, sondern in La Rioja auch als der mit der exzellentesten Ernte. Ein Tropfen aus dieser Zeit ist kaum noch zu kriegen. Für die Journalisten wird, tief unten in der Bodega, wo sich die stimmungsvolle „Weinbibliothek“ befindet und alte Flaschen lagern, eine solche aufgerissen. Kerzenlicht, feierliche Ansprache, ein kleiner Schluck für jeden.
Und der schmeckt sensationell, das täte er vermutlich auch ohne das ganze atmosphärische Bohei drumherum. Die Tannine sind über die lange Zeit komplett entwichen, aus tiefdunklem Rot wurde helles. Das Rioja-typische Holz, was den Wein so markant und, ja, männlich macht, ist angenehm eingebunden. Dieser Wein wirkt alles andere als alt, sondern jung, modern, irgendwie frisch, feminin. Damals, so erfahren wir von Chef-Winzerin Elena Adell, wurden den Blends aus roten auch weiße Viura-Trauben hinzugegeben.
Vielleicht liegt die Zukunft des Hauses ja in seiner Vergangenheit?