Wie ist es um das Thema Nachhaltigkeit im (alkoholischen) Getränkebusiness bestellt? Wie reagiert die Branche auf globale Herausforderungen wie Klimawandel und Ressourcenknappheit?
Darüber sprachen wir mit Erwan Castain von Pimlica, einem jungen Unternehmen mit Sitz in Paris und Berlin, das Beratungs- und Dienstleistungen rund um Nachhaltigkeit anbietet. Castain erklärt uns, was sich ändern muss, wer bereits neue Wege geht, und was ihn frustriert.
Erwan, was genau macht ihr mit eurem Beratungsunternehmen Pimlica?
Wir konzentrieren sich auf nachhaltige Strategieberatung, die Entwicklung langlebiger Produkte und Dienstleistungen sowie die Erstellung aussagekräftiger Kommunikationskampagnen. Wir unterstützen unsere Kunden dabei, ihr Geschäftsmodell und ihre langfristige Strategie dauerhafter und widerstandsfähiger zu gestalten, wenn sie – oder im Idealfall – bevor sie mit sozialen und ökologischen Herausforderungen konfrontiert werden.
Was ist euer beruflicher Hintergrund?
Meine Mitgründerin Eléonore Tavernier hat zuvor als Küchencrew-Mitglied in umweltbewussten Restaurants gearbeitet, zum Beispiel dem „Dessance“ in Paris und dem „Cookies Cream“ in Berlin. Ich habe einen Strategie- und Innovationshintergrund. Wir teilten den anfänglichen und nicht genau definierten Wunsch, unsere unterschiedlichen Fähigkeiten für einen guten Zweck einzusetzen. In monatelangen Recherchen und Treffen wollten wir zunächst verstehen: Warum ist soziale und ökologische Verantwortung in vielen privat geführten Unternehmen noch lange keine Selbstverständlichkeit?
Und was habt ihr dabei herausgefunden?
Es stellte sich heraus, dass ganz unterschiedliche Gründe vorliegen: Das Management kann einfach nicht sensibel darauf reagieren – in der Regel aus Generationsgründen. Es weiß nicht, wo es anfangen soll, wie es mit dem ideologischen Diskurs umgehen soll, der Druck von Verbrauchern und Geschäftspartnern ist nicht hoch genug und vieles mehr. Diese Situation definierte schließlich unseren Ansatz, bei dem es darum geht, geschäftliche Belange mit unternehmerischer Verantwortung in Einklang zu bringen. Nicht durch eine reine Kommunikationsfassade oder durch die Verwendung von Nachhaltigkeit als „Furnier“, sondern durch die Umwandlung in eine glaubwürdige Antwort auf strategische Fragen.
Für wen arbeitet ihr?
Hauptsächlich für die europäische Foodbranche: Lebensmittel, Getränke, Gastgewerbe und Einzelhandel. Die Projekte stehen in der Regel im Zusammenhang mit einer geringeren Abhängigkeit von natürlichen Ressourcen, einer Verringerung der sozialen und ökologischen Risiken und der Entwicklung nachhaltigerer Innovationen.
Was habt ihr zum Beispiel schon umgesetzt bzw. woran arbeitet ihr?
Wir haben eine Kette pflanzenbasierter Dairy-Produkte für ein Lebensmittelunternehmen aufgebaut und einer Spirituosenmarke geholfen, eine flaschenfreie Vertriebskette zu errichten. Wir haben Upcycling-Lösungen für unverkaufte Lebensmittel in einem Kaufhaus gefunden, arbeiten an quasi-abfallfreien Lösungen für eine Restaurantkette und untersuchen das Potenzial der Indoor-Landwirtschaft für ein Lebensmittelunternehmen.
Du hast bei einem großen Spirituosenkonzern gearbeitet, Pernod Ricard, bevor ihr euch selbständig gemacht habt. Ging es da auch schon um Nachhaltigkeitsthemen?
Ich war Mitglied des Innovationsteams und des internen Startups BIG (Breakthrough Innovation Group). Ich habe neue Geschäftsfelder erschlossen, bevor ich eines dieser Unternehmen geleitet habe. Es gab damals keine Richtlinien für Nachhaltigkeit, und es stand jedem Teammitglied grundsätzlich frei, diese in seinen Projekten zu berücksichtigen oder nicht. Bei L’Orbe, der Wodka-Marke, für die ich verantwortlich war, kommen zum Beispiel einige Zutaten aus der Region, die Destillation erfolgt CO2-neutral und die Flasche ist besonders leicht – aber ich glaube, dass es immer Raum für Verbesserungen gibt. Dies ist eine Situation, die wir bei unseren Kunden oft gesehen haben. CSR (corporate social responsibility, Anm. d. Red.) ist in der Regel ein sehr zentrales Thema, für das normalerweise nur ein einziges Team zuständig ist, weit entfernt von operativen Fragen. Ich hoffe, dass wir bald CSR-Botschafter oder entsprechend geschulte Mitarbeiter in allen wichtigen Abteilungen finden: Marktforschung, Produktentwicklung, Marketing/Kommunikation und so weiter.
Mein Eindruck ist: Kleine, neue Getränkeunternehmen beziehen das Thema Nachhaltigkeit sehr oft in die Entwicklung ein, viel mehr als große, wo diese doch viel mehr Budgets haben. Wie siehst du das?
Generell glaube ich, dass CSR ein sensibles Thema für große, alte Unternehmen ist. Sie tendieren dazu, Angst davor zu haben, über ihr jüngsten nachhaltigen Initiativen zu sprechen, weil sie jahrelang nicht so verantwortungsbewusst gehandelt haben – und ein großer Teil ihres Geschäfts noch weit davon entfernt ist, verantwortungsbewusst zu sein. Das bedeutet nicht, dass sie nichts tun. Sie können nur mehr an Reputation verlieren, wenn ihre CSR-Strategie im Vergleich zu jüngeren und kleineren Unternehmen nicht wirklich stark ist.
Ich glaube auch, dass es einfacher ist, ein „tugendhaftes“ Unternehmen von Grund auf aufzubauen, als ein nicht nachhaltiges Unternehmen in ein nachhaltiges zu verwandeln, auch wenn dieses natürlich machbar ist. Einige junge Unternehmen haben Nachhaltigkeit in ihrer DNA verwurzelt und verwenden seit dem ersten Tag Dünnglasflaschen, haben flaschenfreie Vertriebsketten aufgebaut, nutzen biologische, fair gehandelte und/oder lokale Rohstoffe, wenden sauberere Destillationstechniken an und so weiter. Sie stehen beispielhaft für eine bewusste und sich entwickelnden Branche. Aufgrund ihres Umfangs und ihrer Trägheit braucht es viel mehr Zeit, solche Initiativen in größeren Unternehmen umzusetzen.
Darf ich sagen, was mich persönlich frustriert?
Aber bitte.
Dass wir nichts über langfristige, ehrgeizige und visionäre Ziele hören, die sich die Branche setzen sollte. Größere Unternehmen müssen sich mit globalen Themen befassen. Die Spirituosenindustrie wandelt nahrhafte Rohstoffe in nicht nahrhafte Endprodukte um. Die weltweite Mittelschicht hat die größte Wachstumsrate ihrer Geschichte – laut OECD werden ihr bis 2030 1,7 Milliarden mehr Menschen, fast 5 Milliarden, angehören. Das wird die Nachfrage nach Getreide und Knollen weder verlangsamen noch ihre Preise senken. Darum sollte die Industrie neue landwirtschaftliche Techniken und Rohstoffe mit verbesserten Erträgen einsetzen, Wasser einsparen und weniger Flächen nutzen. Sie sollte über lokale Produkte und Kreislaufwirtschaft nachdenken. Sonst wird die Branche ein Reputationsproblem bekommen.
Wenn man darüber nachdenkt, vergegenständlicht eine Spirituose die gesamte Herausforderung durch den Klimawandel. Vom Anbau der Rohstoffe bis zum Versand an die Bar oder das Regal auf der anderen Seite der Welt entsteht sehr viel CO2. Was muss die Branche tun?
Als Optimist glaube ich an eine steigende Vernunft in den Verbrauchergewohnheiten und Branchenpraktiken. Einige der derzeitigen technischen Probleme werden zweifellos bald gelöst sein. Ich denke vor allem an die zwei Hauptbestandteile der CO2-Bilanz einer Spirituosenflasche: Destillation und Verpackung. Lösungen für den Energiebedarf der Destillation und die Reduzierung ihrer flüssigen und festen Abfälle sind bereits vorhanden und da sollte es bald noch mehr Fortschritt geben. Beispielsweise investieren Brennereien in sauberere Energiequellen, Biomassekessel oder geschlossene Wassersysteme. Auf der Verpackungsebene wird erprobt, Glasflaschen zum Beispiel durch große 25-Liter-Container zu ersetzen, und Dünnglasflaschen werden immer beliebter.
Was Rohstoffe betrifft, da glaube ich persönlich an einen umfassenderen Ansatz. An eine Entwicklung hin zu Warenpreisen, die den heutigen Herstellungswert, aber auch die ökologischen und sozialen Kosten widerspiegeln. Dies sollte geschehen, weil die Produkte einiger Unternehmen bei steigender Nachfrage und begrenzten Ressourcen zu ihrem gegenwärtigen Preis sozial und ökologisch unhaltbar sind. Aber auch, weil es für die Verbraucher klarer und akzeptabler wird.
Was bedeutet das konkret für Spirituosen?
Dass wir uns weniger globalen und mehr lokalen Marken zuwenden sollten. Sie würden auf allen Ebenen relevanter: Qualität, Preis und Nachhaltigkeit. Ein Produkt wie Tequila, das in Mexiko aus bestimmten Agaven hergestellt wird, sollte in Europa definitiv zu einem teuren Luxusprodukt werden.
Gibt es Beispiele für vorbildliche Getränkeunternehmen?
Neben vielen anderen nachhaltigen Beispielen gibt es zwei britische Unternehmen, die mich sehr beeindrucken: Victory und The Sustainable Spirit Company, sie stellen Gin und Wodka her. Beide haben ihr System der Großmengen-Distribution bekannt gemacht, indem sie ein paar Glasflaschen zur Erstbestellung an ihre Kunden in Bars und Restaurants versandt haben. Bei der Nachbestellung erhalten diese den Wodka und Gin nur noch in Plastikbeuteln à 2,8 Liter oder 20-Liter-Fässern zum manuellen Nachfüllen der Glasflaschen. Die nachhaltigen Effekte sind enorm: Mit den Beuteln, erklärt The Sustainable Spirit Company zum Beispiel, hat man das Transportgewicht um 45 Prozent und das Transportvolumen um 63 Prozent reduziert. Seit 2012 wurden so 250.000 Flaschen und 160 Tonnen CO2 eingespart. Auf der Geschäftsseite sind ihre Produkte logischerweise günstiger und für die Kunden attraktiver.
Wie fange ich als Beverage-Unternehmen an, mich nachhaltiger aufzustellen?
Eine einfache Methode wäre, sich auf zwei Elemente zu konzentrieren. Die erste ist eine Aufschlüsselung der geschäftlichen Wertschöpfungskette von der Lieferung bis zur Marktverfügbarkeit. Das Isolieren jedes einzelnen Elements ermöglicht es, gewohnte Methoden in Frage zu stellen und nach nachhaltigen Alternativen zu suchen. Spirituosen sind ein gutes Beispiel, bei dem die gesamte Kette herausgefordert werden kann. Wir sprachen ja schon über biologische, faire und lokale Rohstoffe, ebenso über den Destillationsprozess. Natürlich können Verschlüsse auch ohne Kunststoff hergestellt werden, Etiketten können aus Recyclingpapier sein, mit natürlichen Tinten bedruckt werden und mit Klebstoff auf Wasserbasis an den Flaschen haften. Es gibt auch umweltfreundlichere logistische Lösungen. Dies kann zu einer ziemlich langen Recherche führen, aber es lohnt sich auf jeden Fall.
Und das zweite Element?
Besteht darin, diese Forschungsergebnisse auf der Webseite des Unternehmens zu veröffentlichen und die aktuellen Entscheidungen und zukünftigen Ziele zu erläutern. Ich glaube, dass es auf Nachhaltigkeitsfragen niemals die einzige, definitive Antwort gibt. Aber das verstehen die Verbraucher. Unabhängig davon, ob sie aus wirtschaftlichen oder Machbarkeitsgründen eine dauerhafte Lösung einer anderen vorgezogen haben, ermöglicht vollständige Transparenz, den Ansatz zu erläutern – und zu zeigen, dass das Unternehmen sich für den Status Quo interessiert und ihn in Frage stellt.
Wie helft ihr euren Kunden bei solchen Prozessen?
Bei mittelständischen bis großen Unternehmen, die zu uns kommen, ohne ein bestimmtes Projekt, aber mit Interesse an CSR, beginnt unsere Arbeit mit dem genauen Verständnis ihrer Märkte, Wertschöpfungsketten und Abläufe, um kurz- und mittelfristige Risiken – soziale, ökologische und Reputationsrisiken – zu identifizieren. Das verleiht dem Thema Nachhaltigkeit in der Regel eine sehr konkrete und ziemlich ernste Bedeutung und holt das Management an Bord …
… immer gut, wenn das an Bord ist …
… und nach dieser ersten Phase gibt es tendenziell mehrere Arbeitsabläufe und Möglichkeiten, von betrieblichen Optimierungen bis hin zur Entwicklung von Innovationen. Unsere Arbeit besteht darin, diese Abläufe zu präzisieren, soziale, ökologische und strategische Erfolge zu bewerten, erste Rückmeldungen von Interessengruppen einzuholen, die Durchführbarkeit zu messen und einen Aktionsplan zu empfehlen. Am Ende ist es die Entscheidung des Managements, Arbeitsabläufe zu priorisieren und anhand seiner Vision, Strategie, der Agenda und des Budgets Chancen zu identifizieren. Geht es auch um die Entwicklung einer Innovation, beginnt der dritte, projektbezogene Teil unserer Arbeit. An dieser Stelle starten wir auch mit Unternehmen, die mit einem konkreten Projekt zu uns kommen. Wir fördern einen sehr schlanken Ansatz und versuchen, Lösungen – bestehende oder speziell mit unseren Kunden entwickelte – so schnell wie möglich zu einem Prototypen zu bringen und zu testen. Mit diesem Momentum führen wir Nachhaltigkeit auch dichter an Innovations- oder Entwicklungsprozesse für Neuprodukte heran, wie sie in kleinen, privaten Unternehmen üblich sind. Basierend auf dieser iterativen Methode ist es unser Ziel, das Projekt nachhaltig und betriebswirtschaftlich zu validieren. In den letzten Schritten erstellen wir ein Marketingmodell, einen Geschäftsplan und eine Kommunikationsstrategie.
Ihr helft aber nicht nur Unternehmen, sondern unterstützt auch die Gastronomie und Lebensmittelgeschäfte. Das ist sicher ein ganz anderes Kooperieren, oder? Wie funktioniert eure Unterstützung hier?
Unsere Zusammenarbeit mit Restaurants konzentriert sich stark auf Abfälle. Es geht darum, sie in eine Situation zu bringen, in der zumindest alle Reste des Betriebs, Lebensmittel und Nichtlebensmittel, zu Kompost werden können. Idealerweise werden diese Reste stark reduziert, der Großteil wird einem Upcycling unterzogen und dann zum Bestandteil eines neuen Produkts oder Rezepts. Zu diesem Zweck arbeiten wir an der Lieferkette der Betriebe, indem wir bestimmte Hersteller und Produkte unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten, der landwirtschaftlichen Praktiken, der Verpackung und der Lieferung auswählen. So können neue Rezepte nachhaltiger und Upcycling-Elemente – unter Berücksichtigung der örtlichen Lebensmittelsicherheit und Hygieneregeln – integriert werden. Und schließlich schaffen wir andere spezifische Lösungen für nicht verkaufte Produkte, zum Beispiel Wohltätigkeitsprogramme. Bereits ein oder zwei Monate gemeinsamer Arbeit, das ist das Ergebnis für mehrere Kunden in Paris, führen zu einer beeindruckenden Abfallreduzierung.
Vielen Dank für das Gespräch, Erwan.
Mehr Informationen:
www.pimlica.com