Power ohne Prozente: neue Produkte für bessere alkoholfreie Drinks

von Jan-Peter Wulf
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Seedlip-Gründer Ben Branson. Foto: Unternehmen

Der klebrigsüße Mocktail war gestern: Mit neuen Destillaten, die (fast) schmecken wie Spirituosen, werten nicht nur Bars und Restaurants, sondern auch Clubs das prozentfreie Angebot für ihre Gäste auf.

Wer zum Tanzen keine Drinks mit Alkohol konsumieren möchte oder darf, hat bislang eine recht schmale Auswahl: Säfte, Energydrinks, alkoholfreies Bier (wobei sich in dieser Kategorie in punkto Geschmack und Qualität viel tut) und die berüchtigten Mocktails oder Autofahrer-Cocktails, welche meist aus einer Mischung von Säften, Limonaden und Sirupen bestehen. Die sind süß, aber im Geschmacksbild nicht so sexy wie die immer geschmackvoller werdenden Drink-Kreationen auf Basis von Spirituosen. Den Nicht-Alkohol-Trinker hat die Branche nur wenig im Auge.

Bislang jedenfalls. Denn seit einiger Zeit tut sich was im Markt. Los ging es in Großbritannien: 2013 stieß der Unternehmer Ben Branson, der lange Zeit im Spirituosenbusiness tätig war, auf ein Buch anno 1651, das den Namen „The Art of Distillation“ trägt und die Destillation pflanzlicher Heilmittel beschreibt, sowohl alkoholisch als auch alkoholfrei. Besonders Letzteres interessierte ihn. Er erwarb eine kleine Kupferdestille und begann, in seiner Küche zu experimentieren, mit einer Vielzahl von Botanicals. Zwei Jahre lang. Dann stellte er der Welt sein Resultat vor: Seedlip, eine „nichtalkoholische Spirituose“.

Drei Sorten gibt es mittlerweile: „Seedlip Spice 94“ besteht u.a. aus Destillaten von Beeren, Kardamom, Grapefruitschalen und amerikanischer Eiche, es weist einen aromatischen und holzartigen Geschmack auf. „Seedlip Garden 108“ ist frisch, mit Rosmarin, Thymian, Hopfen, Pfeffer – und Gartenerbsen von Bransons eigenem Hof. Kürzlich kam mit „Seedlip Grove 42“ ein drittes, würziges Destillat hinzu, das aus drei Sorten Orange, Zitronengras, Ingwer und japanischem Sansho-Pfeffer besteht. Die Herstellung erfolgt, indem die Rohstoffe in bestimmten Mischungsverhältnissen mit neutralem Alkohol und Wasser kalt mazeriert werden. Anschließend erfolgt eine zweifache Destillation im Kupferkessel.

Getränke auf Augenhöhe

An was erinnert uns das alles? Richtig, an den aktuellen Spirituosen-Hipster Gin. Und als Ersatz für diesen ist „Seedlip“ tatsächlich auch gedacht – gemixt mit Tonic Water oder anderen Fillern. Den Unterschied macht, dass „Seedlip“ keinen Alkohol mehr enthält, denn der wird den Destillaten vor der Filtration und Abfüllung entzogen. Wie, das ist freilich das große Betriebsgeheimnis – es wird vermutet, dass man eine Vakuumrektifikation anwendet, bei der durch Absenkung des Luftdrucks der Siedepunkt des Alkohols gesenkt und dieser schrittweise entzogen wird.

Schmeckt „Seedlip“ wie ein Gin? Nein, nicht ganz. Bekanntlich ist Alkohol, wie Fett, ein starker Geschmacksträger. Die Intensität ist nicht vergleichbar. Und doch: Aufgrund der hohen Beladung mit Botanicals hinterlässt das Destillat im Drink einen markanten aromatischen Abdruck. Mit einem (idealer Weise trockenen) Tonic Water aufgefüllt und einer Scheibe Grapefruit, einem Zweig Rosmarin oder mit einer gemuddelten Stange Zitronengras garniert, je nach „Seedlip“-Sorte, stellt der Gastgeber seinem Gast einen ordentlichen Drink auf den Tresen. Der nicht nur gut schmeckt, sondern auch das soziale Stigma („wie, du trinkst nicht?“) aus dem Weg räumt. Ein Getränk auf Augenhöhe mit Gin Tonic und Co. – übrigens auch preislich, denn für einen Einzelhandelspreis von rund 25 Euro für die 0,7-Liter-Flasche bekommt man auch schon einen guten Gin. Oder andersherum gesagt: Eine Flasche Seedlip kostet auch so viel wie eine amtliche Spirituose. 

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Fast ein Gin: Wonderleaf. Foto: Rheinland Distillers GmbH

Einen guten Gin, den stellen zum Beispiel Raphael Vollmar und Gerald Koenen, die „Rheinland Destillers“, her: Ihr „Siegfried“ wurde schon mit vielen Auszeichnungen und Medaillen bedacht, unter anderen „Double-Gold“ bei den „World Spirits Awards 2015“. 2018 brachten die Bonner das deutsche Pendant zu „Seedlip“ auf den Markt: den alkoholfreien „Siegfried Wonderleaf“. Er basiert, wie sein älterer, hochprozentiger Bruder, auf 18 Botanicals (u.a. Lindenblüte und Wacholder), wird wie dieser destilliert und anschließend vom Alkohol getrennt. Wie das genau vonstatten geht, wird auch hier gut gehütet.

„Wonderleaf“ bringe die Aromen der Botanicals von Gin in alkoholfreier Version in Drinks und Cocktails für die, die mal nichts trinken möchten oder dürfen, erklärt das Unternehmen. Das Destillat pur zu trinken, empfiehlt sich nicht, auch dieses Produkt ist für eine Verwendung zusammen mit einem (kohlensäurehaltigen) Filler wird die Sache konzipiert worden. Natürlich haben sich auch schon die Mixologen des Landes an die nichtalkoholischen Destillate rangemacht und Kreationen mit ihnen entwickelt, und neuerdings steht die Kölner Bartenderin Tatjana Friedrich dem Produkt als Markenbotschafterin zur Seite, zuvor war sie in Diensten von „Lillet“ (Pernod Ricard). Friedrich schult Bar- und Gastro-Teams auf das ungewöhnliche Produkt. Übrigens: Weil „Siegfried Wonderleaf“ und „Seedlip“ keinen Alkohol haben, der sie konserviert, ist ihre Haltbarkeit verhältnismäßig begrenzt. Eine offene Flasche sollte binnen einiger Wochen verbraucht, muss aber nicht gekühlt werden.

Produkte für einen wachsenden Markt

„Seedlip“ und „Wonderleaf“: Zwei Paradiesvögel in der Spirituosen-Voliere? Nicht ganz: Denn der Durst nach alkoholfreien Getränken wird unter den Konsumenten immer größer. Beim Bier ist die nichtalkoholische Kategorie seit Jahren auf Wachstumskurs, generell ist der Alkoholkonsum bei jungen Erwachsenen seit Jahren rückläufig. 2016 gab nur jeder Dritte im Alter von18 bis 25 Jahren an, mindestens einmal in der Woche Alkohol zu trinken, fünf Jahre zuvor waren es noch rund 40 Prozent gewesen (Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung). Zahlreiche Freizeitalternativen – Sport bzw. Fitness ist nur eine davon – stehen im Wettbewerb mit der „herkömmlichen“ Art des Club- und Discothekenbesuchs, sprich Tanzen und Trinken. Selbstoptimierung und Selbstkontrolle sind angesagte Lifestyle-Trends unter jungen Menschen. Genussvolle Getränke ohne unangenehme Nachwirkungen passen daher bestens ins persönliche Setting, denn mit ihnen lässt es sich ausgelassen feiern und am nächsten Tag das Fitnessprogramm, der Elternbesuch oder natürlich auch der Dienst ohne schweren Kopf bestreiten.

Den Trend hat auch die Spirituosenbranche erkannt. Branchenprimus Diageo, in dessen Portfolio sich hochprozentige Dickschiffe wie der Wodka „Smirnoff“, die Gins „Tanqueray“ und „Gordons“ sowie der Rum „Captain Morgan“ befinden, hat sich über sein Start-Up-Programm „Distill Ventures“ an „Seedlip“ beteiligt und treibt die Expansion des kleinen Unternehmens auf globaler Ebene voran. Außerdem hat Diageo eine „Ultra Low Alcohol“-Variante seines Gins „Gordon’s“ mit nur 0,5 Volumenprozenten sowie zwei darauf basierende Premix-Getränke auf den US- und UK-Markt gebracht.

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Ohne Prozente aus den Niederlanden: Fluère. Foto: Redaktion

Auch andere Branchenkonzerne strecken ihre Fühler in Richtung des nichtalkoholischen Destillate-Segments aus. So hat sich Pernod Ricard internationale Vertriebsrechte an dem südafrikanischen Gin-Ersatz „Ceder’s“ gesichert. Auf dem „Bar Convent Berlin“, der größten Fachmesse für das Bar- und Spirituosen-Business, stellten sich im vergangenen Jahr gleich mehrere Hersteller von neuen, nichtalkoholischen Erzeugnissen, die Gin, Rum und Co. ersetzen wollen, der Öffentlichkeit vor. Zum Beispiel „Fluère“ aus den Niederlanden, ein Destillat aus Wacholder, Lavendel, Koriander und Zitronen. Oder „Stryyk“ aus Großbritannien, Hersteller von gleich drei Spirituosen-Ersatzprodukten: Die Namen „Not Gin“, „Not Rum“ und „Not Vodka“ sind selbsterklärend – und Gründer Alex Carlton, der zuvor bereits die Convenience-Marke „Funkin Cocktails“ aus der Taufe gehoben hat, zielt, so erklärte er uns beim Standbesuch, damit vornehmlich auf ein junges, clubbiges Publikum ab. In Kürze will das Berliner Start-Up „Nongin“ sein erstes Produkt vorstellen, es werden wohl weitere folgen.

Ergänzung, nicht Ersatz

Werden „alkoholfreie Spirituosen“ bald die Hochprozenter in den Bar- und Clubregalen ersetzen? Sicher nicht. Doch sie werden diese immer mehr ergänzen. Und nicht nur Autofahrern und anderen Abstinenzlern, die mit ihnen endlich einen schicken Drink in die Hand bekommen, Spaß bereiten – sondern auch allen anderen. Wer nämlich zwischen den Drinks „mit“ immer mal einen Drink „ohne“ bestellt, hat länger was vom Abend. Und der Gastgeber darf sich mitfreuen: Sehen die Drinks gut aus und schmecken sie auch so, kann ein Preis (fast) auf Höhe der alkoholhaltigen durchaus abgerufen werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst im disco-Magazin und wurde leicht adaptiert. 

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