Neuerdings fliegen überall die Plastik-Trinkhalme aus dem Sortiment statt nach einmaliger Verwendung in den Müll. Die Alternativen bestehen aus Stärke, Stroh, Glas, Metall – oder aus nichts, denn oft ist gar kein Halm nötig, ergibt unsere Bestandsaufnahme.
Der kanadische Journalist und Autor Malcom Gladwell hat 2000 ein vielbeachtetes Buch vorgelegt: „Tipping Point – Wie kleine Dinge Großes bewirken können“. Darin beschreibt er das Phänomen des Umschlagpunktes, an dem zuvor geradlinige Entwicklungen auf einmal abbrechen, die Richtung wechseln oder an Fahrt aufnehmen. Er führt zum Beispiel die Schuhmarke „Hush Puppies“ an, die von den US-Hipstern quasi über Nacht, zuvor als völlig uncool geltend und dem Ruin nahe, zum Kult und zum Verkaufsschlager wurde. Oder die Stadtpolitik New Yorks in den 1990er-Jahren, die auch kleinsten Vergehen nachging („broken windows policy“) und damit für einen rapiden Rückgang auch schwerer Verbrechen gesorgt haben soll.
#refusethestraw
Einen solchen „tipping point“ erleben wir aktuell in der Gastronomie, im Glas der Gäste. Denn in dieses kommt seit einigen Monaten immer häufiger nicht mehr rein: der Trinkhalm aus Plastik. Weil seit einiger Zeit, vor dem Hintergrund wachsender Umweltprobleme, immer häufiger darüber berichtet wird, dass täglich (!) Milliarden dieses einmalig und manchmal gar nicht verwendeten Wegwerfartikels bestenfalls im Müll, oft aber im Meer landen, kippt die Wahrnehmung: Vom unhinterfragten Teil der Dienstleistung für den Gast wird ein Malus. Trinkhalm? Nein, danke!
Wo das Ganze seinen Ursprung hatte, lässt sich nur vermuten: Vor ein paar Jahren hatten auf Twitter diverse Nutzer mit dem Hashtag #refusethestraw dazu aufgerufen, in Bars und Cafés aktiv darauf hinzuweisen, dass man keinen Trinkhalm benötige. Was dazu führte, dass immer mehr US-Betriebe darauf verzichteten. Jetzt ist das Thema auch bei uns eines. Fizzz-Redakteur Alexander Thürer pointierte es in seiner Kolumne Thürers Attacke kürzlich mit dem Satz „Schnorchelsaufen ist eh out!“
Kein Halm ist die beste Alternative
Es scheint was dran zu sein. Warum eigentlich einen Halm ins Glas stecken, fragen sich immer mehr Gastronomen. Besonders Bartender lassen häufig davon ab. Aus verschiedenen Gründen: „Die einfachste und sehr sinnvolle Alternative ist kein Trinkhalm. Denn die meisten Getränke sind besser ohne Trinkhalm trinkbar, solange zum Beispiel kein Crushed Ice verwendet wird“, findet Ruben Neideck vom Velvet in Berlin-Neukölln, bei den „Mixology Bar Awards 2019“ zur „Bar des Jahres“ gekrönt. „Die Sensorik ist besser, da der Drink anders und füllender über die Zunge schwappt.“ Es sei zudem ein Handgriff weniger und spare Material gegenüber Einweglösungen, sowie den Extra-Spülhandgriff bei Mehrwegalternativen. „Einzig die Gewohnheit von Gästen verlangt dann noch danach, Trinkhalme zumindest optional vorrätig zu haben“, so Neideck.
Seine Kollegin Sarah Deuss, aus dem Jaz in the City in Stuttgart, berichtet Ähnliches: Nur, wenn es explizit nachgefragt wird, werden Halme herausgegeben: „Wir haben Trinkhalme aus Plastik da, weil es Gäste gibt, die auf einen Trinkhalm bestehen.“ Doch nur 10 bis 20 Stück so hat sie beobachtet, verbrauche man im Monat noch: „Ich halte das für sehr wenig“, so Deuss. Ähnlich sieht es bei Edgar Gerold aus, der mit seinem Unternehmen „Sektgar“ in Berlin exklusive Schaumwein- und Cocktail-Caterings durchführt. Trinkhalme verwende man nur, wenn absolut notwendig oder explizit gewünscht sei. „Kein Strohhalm ist etwas, das explizit von manchen Gästen gewünscht wird. Es ist auf jeden Fall ein Thema, das gerade voll angekommen ist.“
Nachhaltige Alternativen: Stärke, Stroh, Glas, Metall
Logische Konsequenz und wichtiger erster Schritt: „opt in“ statt „opt out“ – statt standardmäßig keinen Halm zu verwenden, verwendet man standardmäßig keinen. Und sollten Gäste dann doch explizit um einen bitten – man denke an kleine Gäste, die sich mit einem großen Tumbler voller Apfelschorle möglicherweise schwer tun, an Heißgetränke und Drinks mit Crushed Ice –, dann gibt es Alternativen zum Plastik.
Die in der hiesigen Gastronomie auch vermehrt Einsatz finden: Diverse Unternehmen der Branche – von Systemern wie Bolero und Sausalitos bis zum Hamburger Limonadenhersteller fritz, um nur einige beispielhaft zu nennen – gaben im Laufe dieses Jahres bekannt, auf Plastik zu verzichten und mit nachhaltigen Alternativen zu arbeiten. Die Bolero-Gruppe mit ihren zehn Outlets zum Beispiel verwendet fortan biologische Trinkhalme (Hersteller: Bio Strohhalme), die aus Kartoffelstärke und Mineralien bestehen und vollständig biologisch abbaubar sind. „Dafür nehmen wir auch gern etwas höhere Betriebsausgaben in Kauf“, so Geschäftsführer Christopher Nolde.
Auch bei den Kollegen von Sausalitos geht man, trotz finanziellen Mehraufwands, einen solchen Weg: „Mit der Einführung des Nudeltrinkhalms wollen wir unsere Gäste von unserem nachhaltigen Engagement begeistern und zum Nachmachen anregen“, so Marketingchef Dominic Cloudt. Mittelfristig wolle man jede Form von Plastik aus seinen Standorten verbannen. Das Unternehmen setzt derzeit in seinen über 40 Betrieben Trinkhalme der Marke Sunny Pipe ein. Diese sehen nicht nur wie Maccaroni aus, sondern sind tatsächlich auch essbar, denn sie bestehen zu 100 Prozent aus Weizen.
Glas im Glas
Bei fritz macht man fortan gemeinsame Sache mit dem Berliner Glastrinkhalm-Startup Halm: Für ausgewählte Gastronomiebetriebe stellt man wiederverwendbare Glastrinkhalme in limitierter Auflage her – gebrandet mit dem Schriftzug des Hamburger Limonadenunternehmens.
Diese Trinkhalme aus bruchfestem Glas verwendet man zum Beispiel auch in der – überhaupt sehr nachhaltig arbeitenden Bar „Stairs“ (siehe hier) – oder auch im bereits genannten „Velvet“: „Ich mag die Haptik und die geringe Wärmeleitfähigkeit“, so Ruben Neideck. Auch der Reinigungsaufwand sei – zumal man sie nur sehr begrenzt verwendet – überschaubar: „Das ist normalerweise in einer ausreichend heiß desinfizierenden Osmose-Waschmaschine mit entsprechendem Einsatz einfach. Und tatsächlich sind sie auch gut geeignet als wiederverwendbare Abschmeck-Trinkhalme.“
Ein Füllhorn an Alternativen
Halm ist nicht der einzige Glastrinkhalm-Anbieter, so bietet zum Beispiel auch die Firma Doli aus Düsseldorf Trinkhalme aus diesem Material an. Weitere Alternativen zum Plastik stellen Trinkhalme aus echtem Stroh (die zum Beispiel ebenfalls von der „Bio Strohhalme GmbH“ geliefert werden) oder aus Edelstahl (über diverse Onlineshops beziehbar) dar. Auch Trinkhalme aus einem Apfeltrester-Getreide-Mix (von Superhalm) oder aus kompostierbarem Papier (diverse Anbieter) gibt es. Vor dem Hintergrund, dass die EU voraussichtlich ab 2021 sämtliches Plastikgeschirr verbieten wird – so zumindest sieht es ein Vorschlag der EU-Kommission vor –, entsteht ein dynamischer Markt.
Und während die beste Alternative – ganz drauf verzichten – eindeutig ist, muss jeder Gastronom bei der zweitbesten Alternative individuell handeln, testen und entscheiden: Soll es ein wiederverwendbarer oder ein biologisch abbaubarer Einweg-Trinkhalm sein? Kann und will ich reinigen oder nicht? Kann ich einen Eigengeschmack (der z.B. bei Weizen-Trinkhalmen, aber auch bei Edelstahl zu verzeichnen ist, wie uns die Gastronomen widerspiegeln) tolerieren oder nicht? Lässt es meine gastronomische Situation zu, dass ich bruchfestes – aber nicht zu 100 Prozent bruchsicheres – Trinkhalmglas herausgebe? Mit der Vielzahl der Optionen tun sich ebensoviele Fragen auf – und die Antworten muss jeder für sich selbst herausfinden.
Individuell entscheiden, Reflexion anregen
Die individuelle Lösung: Kein leichtes Unterfangen. „Wir arbeiten noch daran und geben aktuell Trinkhalme nur auf Anfrage raus, da wir noch keine Alternative für das Volumen unser Bar gefunden haben“, berichtet zum Beispiel Julia Rahn aus dem Roomers in Frankfurt (sie ist zwischenzeitlich in die Bar „Kopper“ nach München gewechselt). Tim Koch, Bobby & Fritz Essen, konstatiert ebenso: „Uns hat keine der Alternativen bislang restlos überzeugt. Entweder sind diese viel zu teuer oder es ist doch ein Eigengeschmack der Halme dabei, der dann stört.“ Im Notfall gebe man Gästen, zum Beispiel Kindern, einen Becher zur Flasche (Imbisskonzept) dazu. Was er allerdings beobachtet hat: „Es schon sehr erstaunlich, wie wenig die Gäste die Plastikhalme vermissen beziehungsweise die Initiative unterstützen.“
Und das ist sicher etwas, das nicht zu unterschätzen ist, um auch im privaten Bereich ein Umdenken und -lenken im Sinne des „tipping point“ zu bewirken. Wie Ruben Neideck findet: „Häufig wird durch das Reichen eines Glasstrohhalms ein kurzes Gespräch über Nachhaltigkeit angeregt, und das ist viel wichtiger – der gesellschaftliche Diskurs darüber.“ Wodurch dann auch wiederum Impulse für mehr Nachhaltigkeit gesamten Gastro-Betrieb, entstehen können.
Die Trinkhalm-Wende: 5 Tipps für Gastronomie-Betriebe
1. Umdrehen: „opt in“ statt „opt out“ – Trinkhalme (auch nachhaltige) nur auf Wunsch des Gastes herausgeben
2. Kommunizieren: „opt in“ mündlich, in der Karte oder über Tischaufsteller erklären
3. Ausprobieren: Muster verschiedener Materialien bestellen und in der Alltagspraxis testen
4. Nachfragen: Was sagen die Gäste, wie finden sie die Alternativen?
5. Auswählen: Favoriten küren und als zweite Alternative neben „no straw“ verwenden
Leicht angepasste Version des zuerst in fizzz 12/2018 erschienen Beitrags.