Goodbye Vintage!

von Artus Larisch

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Es hat sich eingeschlichen. Mit einzelnen Gegenständen, Hinguckern, Deko-Elementen: Der Vintage-Style. Hier ein alter Sekretär, da ein Landhaus-Stuhl, auf dem Tisch eine Uralt-Etagère, an den Wänden sepiafarbene Portraits längst verblichener Personen. Die Frage ist nur: Wie lange ist diese Sehnsucht nach Altem neu genug für eine innovative Branche?

Vintage-Design: Für die innovative Gastronomie war das Alte ein neuer Impuls – weg von minimalistischem, kubistischem, puristischem Design, hin zu mehr Gemütlichkeit. Ausgedientes wurde auf einmal neu entdeckt: Ausgemusterte Tische und Stühle, Schränke, Hocker und Bänke vom Trödel, vom Antikhändler oder im Glücksfall (und besonders authentisch!) vom Dachboden. Sie alle wurden flugs in die Läden geräumt, dazu wurden (bitte keine Neuware!) Kaiser Idell-Lampen an die Wände geschraubt, Blümchentapeten (woher bezogen? Geheimnis!) an selbige geklebt, gerne auch teilweise gleich wieder abgerissen, um freie Sicht auf das schöne Mauerwerk zu gewähren. Dazu ein französisches Zuckerdöschen aus Vorkriegszeiten und die Nähmaschine der Uroma in die Ecke. Eine Topfpflanze oben drauf. Noch eine. Cosyness pur, bitte!

Langsam wird es muffig
Alles schön gemütlich. Aber langsam wird es ein bisschen muffig bei all dem alten Zeugs. Und zunehmend austauschbar: Mindestens jede zweite hippe Gastronomie präsentiert sich seiner ersehnten, trendorientierten Zielgruppe authentisch ausgestattet mit windschiefen Vintage-Tischen, abgewetzten Biedermeier-Stühlen, mit rostigen Blechkonserven als Besteckbehältern und splittrigen Sperrholzkisten als Rückbuffet. Hoffentlich trägt das dünne Holz neben den in Apotheker-Fläschchen abgefüllten Spirits auch noch den ausgestopften Waschbär obenauf…
Und all das schummrig beleuchtet von „Vintage-Arztlampen“ (wer von Berufs wegen Zugriff darauf hat: bei Ebay wird man damit reich!) oder – die sind 2012 ja schon beinahe Vintage! – echten Glühbirnen, die mit dem Glühdraht, erinnert sich jemand? Entweder formschön eingefasst von ausgedienten Keller- bzw. Gitterlampen oder einfach schlicht und erleuchtend nackig von der Decke hängend, wie damals beim Einzug. Sehr beliebt auch in Verbindung mit Bügeleisen-Kabelstoff im Hahnentritt-Muster. Wirkt lässig!

Turnhallen-Plünderung
Nachdem Omas Wohnzimmer und der Keller erfolgreich geplündert wurden und der Fundus Bars, Restaurants und Kneipen füllt, sind jetzt Schulen und Sportvereine dran: Alte Turnpferde und -böcke mit auf Sitzhöhe abgesägten Füßen, ebenso Klassenzimmer-Stühle und -Tische (möglichst Primarstufe) dienen neuerdings als Sitzmobiliar für die urbanen Hipster, die unter selbigen verzweifelt nach Steckdosen für ihr digitales High-Tech-Kommunikations-Arsenal suchen. Früher hielten Handys ja länger! Gute alte Zeit… wenigstens gibt es zum WLAN ein lokal gebrautes Bier, eine hausgemachte Limonade, einen Dritte-Welle-Kaffee oder einen artisanalen Drink mit Gin aus einer „small batch distillery“.
Möglichst handgemachte Produkte konsumieren in einem möglichst authentischen Ambiente ist beliebt. Ebenso, dieses Erlebnis möglichst schnell – am besten in stilechter Vintage-Polaroid-Sepia-Optik via Instagram – zu teilen. Schaut mal, alles so schön echt hier! Und so „old school“! Je schneller, digitaler, unverständlicher die Welt wird, desto größer das Verlangen nach Altem, Ehrlichem, im wahrsten Sinne des Wortes Begreifbarem. Deswegen all die von Holzwürmern durchforsteten Möbel, all die altmodischen Hüte, Hosenträger und Fahrräder an jungen Menschen in großen Innenstädten. Und deswegen die ganzen scheinbar alten Handyfotos, die mit ihren Gelb- und Rotstichen dieses Alte scheinbar auch in der Vergangenheit erlebt erscheinen lassen.

Faux Vintage Chic
Wozu die Polemik? Die Leute wollen es doch so! Sie wollen, jedenfalls nicht jetzt, wieder zwischen hintergrundbeleuchteten Lounge-Würfeln sitzen, Weichspül-Loungemusik hören und Alcopops trinken. Das mag stimmen. Nur ist es so, dass diese alte Echtheit längst und immer häufiger ein Trugschluss ist. „Faux Vintage Style“ macht sich breit. Retro, das sich nicht als solches enttarnen lassen will. Längst fahren ganze Branchen beste Umsätze mit auf alt getrimmten, neuen Möbeln und Deko-Gegenständen, mit abgewetzt erscheinenden Bodenbelägen und dergleichen mehr ein. Der „used look“, bekannt aus der Modebranche, einst geprägt von Jeans-Hersteller Diesel, ist längst in der Einrichtungswelt angekommen.
Was praktisch ist: Wer eine Gastronomie im alten Look gestalten will, braucht nicht mehr zum Antikhändler gehen und viel Geld auszugeben. Auch schwedische Anbieter von Selbstbau-Möbeln haben diese nun im Sortiment. Ganze Einrichtungsmessen wie Early Bird, Ambiente oder Creativa sind von Shabby-Chic-Neuware im alten Look. Dort exponierte Obskuritäten wie Loungemöbel im Uralt-Überseekoffer-Look – das waren nie Koffer, die sehen nur so aus! – oder Tapeten mit Fake-Abrissen, die ein Fake-Mauerwerk „sichtbar“ machen, sie signalisieren das Ende der Echtheit. 

Was Neues, bitte!
Und deswegen: Für den Teil der Branche, der für Innovation einsteht, der Gäste mit Neuem (egal ob alt oder neu) überraschen, inspirieren, verführen will, und der, benutzen wir das Wort ein letztes Mal, authentisch sein will, ist es an der Zeit, sich auf die Suche nach etwas anderem zu machen. Bevor die Gäste demnächst, die Baustellenlampe in der einen, das Smartphone in der anderen Hand haltend, auf verschwitzten Turnmatten zwischen klapprigen Konsolentischen unter bedrohlich durchgerostetenoxidierten Kronleuchtern hockend, sich die Lippen an dünnwandigen Vintage-Sektgläsern aufschneiden, schlagen wir lieber vor: Das nächste große Ding, bitte. Thank you and goodbye Shabby Chic, a very warm welcome to… ?  

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2 Kommentare

oTTo Jung 29. Oktober 2012 - 18:56

Den letzten Satz selbst beenden und nachhaltig wohlhabend werden. Good luck

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