Viele Gastronomen könnten tolle Geschichten aus ihrer Anfangsphase erzählen. Ansgar Oberholz tut es: Er hat die turbulente Phase von der Eröffnung über schleppende Anfangswochen bis hin zu ersten Lichtblicken in einen lesenswerten Roman verpackt.
Die Torstraße ist eine dicke Vene auf der Hand der alten Diva Berlin, violett hervorstechend
unter der schon dünn gewordenen Haut der Hand, die schon so vieles getragen hat,
deren Knöchel deutlich hervorstehen.
In der Mitte der Vene, dort, wo man die Nadel für eine Infusion ansetzen würde,
liegt der Rosenthaler Platz mit dem Café.
Das St. Oberholz am Rosenthaler Platz in Berlin: Seit rund acht Jahren beschäftigt sich hier die viel zitierte Digitale Bohème hinter leuchtenden Apple-Laptops mit ihren Projekten. Das Grundrauschen, das sich in anderen Cafés aus Tischgesprächen bildet, hier kommt es vornehmlich vom sanften Massieren der Tastaturen und vom rücksichtsvoll leisen Skypen mit entfernten Projekt- und Beziehungspartnern. Manchmal sitzen auch kleine Gruppen hinter dem Bildschirm, eine Szenerie wie auf dem Rückseitencover von Blurs The Great Escape, nur mit Laptop statt PC, mit Smartphone statt Schnur-Telefon. Es herrscht ständig beschäftigte Ruhe, fast Bürocharakter, abends wird es mitunter etwas geselliger. Das passt zur hippen Szene, die hier bei durchschnittlich vermutlich sehr hoher Verweildauer Latte, Cola, Panini und etwas später gern auch ein Bierchen am Tresen ordert.
Bei jedem Besuch habe ich das Gefühl, das gerade immer irgendwie mindestens ein nächstes großes Ding in der Entstehung ist, so konzentriert, wie die Gäste ihre Blicke auf den Bildschirmen ruhen statt im Raume schweifen lassen. Gerne würde ich ein bisschen mit aufs Display gucken, aber das tut man ja nicht. Angeblich ist das Ex-Startup Soundcloud, das heute einige Hundert Mitarbeiter hat, hier entstanden. Ebenso, immerhin bereits 2005, der etwas weniger weltbekannte Trendletter node, den ich zusammen mit einem guten Freund für einen Musiksender produziere.
„Es war zwar von Anfang an Teil des Konzepts, Leute aus umliegenden Büros und Freelancer anzusprechen, aber dass es derart zum Alleinstellungsmerkmal werden würde, hätten wir damals nicht gedacht. Ich kenne kein weiteres Beispiel für eine Gastronomie, die so konsequent zum Arbeiten aufgesucht wird“, erzählte mir Betreiber Ansgar Oberholz mal in einem Interview für einen Artikel.
Dieser heute so hypermoderne, manchmal paradoxerweise gerade wegen der vielen digitalen Kommunikation fast etwas unkommunikativ wirkende Ort, er blickt auf eine einzigartige Historie zurück: Er war einst Treffpunkt der „wirklichen“ Bohème: Die 9te Bierquelle der Gastro-Multis Aschinger befand sich in dem Haus, die Ende des 19. Jahrhunderts größte europäische Gastronomie-Kette betrieben. Alfred Döblin setzte dem Wirtshaus, das er selbst gerne aufsuchte, ein literarisches Denkmal, indem er seine berühmte Romanfigur Franz Biberkopf aus Berlin Alexanderplatz hier einkehren ließ.
Für Ansgar Oberholz war es Liebe auf den ersten Blick: Nach dem jähen Ende seiner Werbeagentur-Karriere hatte er sich in den Kopf gesetzt, genau hier, mitten am lärmigen Rosenthaler Platz, ein SB-Konzept zu eröffnen. Aus dem Agenturmensch wird ein Gastronom: Wird es gelingen? Das ist lange unklar: Zwischen dem initialen Moment, im Gewitter-Regen vor der Ex-Bierquelle stehend, bis hin zu den ersten Lichtblicken, der wachsenden Zuversicht, dass das Gastro-Projekt tatsächlich funktionieren könnte, sollen viele turbulente Monate liegen. Es ist die berüchtigte Anfangsphase, die jeder Gastronom kennt und über die ein jeder eine Geschichte erzählen könnte.
Allein: Ansgar Oberholz tut es. Er hat seine Erinnerungen aufgeschrieben und verdichtet: Erstmalig seit Markus Frankls großartigem Buch über die Entstehung seines Nage und Sauge, Wer nichts wird, wird Wirt: How to open a bar, gibt es somit wieder einen waschechten Gastro-Roman: Für hier oder zum Mitnehmen?: St. Oberholz – der Roman ist amüsant und kurzweilig, detailreich und voller Momentaufnahmen, die zum Schenkelklopfen, Kopfschütteln, zum Wegdrehen und zum eiligen Weiterlesen animieren.
Und zugleich hat das Buch viele Momente, die jedem Betreiber bekannt vorkommen dürften: Da ist keine Kohle mehr vorhanden, um Lieferanten zu bezahlen, deswegen mit dem Fahrrad zum Supermarkt, mit EC-Karte einkaufen. Es bilden sich Idiosynkrasien im noch nicht eingespielten Team des Betriebs. Das Amt will eine Personaldusche, die ersten Gäste entsprechen so gar nicht der angepeilten Zielgruppe. „Mit allen möglichen Problemen habe ich gerechnet und die meisten davon auch bekommen“, schreibt der Autor.
Und noch ein paar unvorhergesehene Probleme dazu: Der Geist einer in den Kellerräumen umherspukenden „Nazi-Putzfrau“, der mittels eines Mediums endlich Seelenfrieden finden und der heutigen Reinigungskraft einen endlich angstfreien Arbeitstag sichern soll, die öffentliche Masturbation als Protest gegen das Hausverbote und das Überbringen der schlechten Nachricht an einen Gast, der auf sie wartet, um mit ihr in ein neues Leben durchzubrennen, auch solche Obskuritäten hat das Buch zu bieten, dessen Titel eigentlich viel zu schlicht ist für das, was den Leser erwartet.
Mein persönliches Highlight des Buchs: Der wohl letzte Besuch des unermüdlichen Erfrischungsgetränke-Außendienstlers. Diesem soll Ansgar Oberholz auf den Zettel schreiben, welchen Betrag er für eine Einlistung in seinen „Premium-Spot“ denn gerne hätte. Premium-Spot? Ein Lichtblick – anscheinend glauben nun auch Außenstehende an sein Konzept. Was er dem Vertreter auf den Zettel schreibt? Lesen Sie selbst!